Niemals nie

Eigentlich liegt der Besuch von mir fast schon zu lange zurück, um noch darüber zu schreiben, aber weil ich den Abend als so außergewöhnlich gut empfunden habe, kann und will ich es doch nicht unterlassen, diesen Eindruck nachträglich festzuhalten. Die Rede ist von dem Stück NEVER FOREVER an der Berliner Schaubühne.

Thematisch ähnlich gelagert wie die bereits besprochenen Stücke von Sibylle Berg geht es auch hier wieder um das moderne Individuum im Internetzeitalter und unter den Bedingungen von Social Media, nur diesmal ohne die schwerpunktmäßige Fokussierung auf Weiblichkeitsentwürfe. Als einer unter vielen taucht jedoch auch dieser Aspekt im Panoptikum der Inszenierung von Falk Richter und TOTAL BRUTAL auf, nämlich wenn gleich ziemlich am Anfang eine „mise en abyme“-Schauspielerin eine Frau, die sich als ihre Tochter an sie wendet, mit den Worten abweist, „die Mutterrolle habe ich nie angenommen“, und damit das womöglich natürlichste und innigste Verhältnis, was (konventionell gesehen) zwischen zwei Menschen herrschen kann, zu einem nur optionalen Engagement degradiert. Damit ist schon zu einem frühen Zeitpunkt im Stück sehr effektvoll herausgestellt, worum es dann auch in der Folge weiter gehen wird: Menschen, die sich außerstande sehen, sich langfristig auf etwas einzulassen, nicht nur aber insbesondere auf Beziehungen zu anderen Menschen. Den komischen Höhepunkt in diesem Problemkosmos bildet ein Telefonat zwischen den beiden Partnern in einer modern unverbindlichen On/off-Beziehung, wo der Mann nach Tagen oder gar Wochen ohne jeden Kontakt mal wieder nur anruft, um sich darüber auszulassen, wie extrem „busy“ er in letzter Zeit immer gewesen sei und wie außerordentlich müde ihn dieses sein Business praktisch jeden Tag mache, sodass jedes persönliche Treffen in nächster Zeit weiter ausgeschlossen bleibe, woraufhin ihn die Frau damit konfrontiert, dass ihr solche Telefonate nicht reichten, sondern sie ihn schließlich auch mal sehen wolle. Paarkonstellationen in dieser engeren Hinsicht trifft aber nur ein Schlaglicht unter vielen, und das Phänomen „Unverbindlichkeit“ wird auch in mehreren anderen Bereichen vorgeführt. So beklagt sich etwa auch ein Hochschuldozent über die geschrumpfte Aufmerksamkeitsspanne seiner Studenten und weist konsterniert darauf hin, dass es u.a. im Denken (er ist jedenfalls von der philosophischen Fakultät) „nicht nur Highlights“ geben könne, sondern „auch Hinleitungen“ absolviert und in Kauf genommen werden müssten, wozu die Nachwuchswissenschaftler seiner Ansicht nach anscheinend meistens gar nicht mehr bereit seien. Oder eine Frau konstatiert bei sich die Unfähigkeit zur „face to face“-Kommunikation, weil dabei im Gegensatz zum digitalen Posten nicht die Möglichkeit besteht, die eigenen Aussagen auch nachträglich noch zu editieren oder wieder zu löschen, sie krankt an der Endgültigkeit der gesprochenen Rede, die nach dem Aussprechen vermeintlich ein für alle Mal feststeht. Immer wieder kreisen die Szenen, die in weitgehend unverknüpfter Reihe aufeinanderfolgen, um dieselbe Symptomatik: das Unvermögen zu anhaltender Hinwendung, die stattdessen nur noch temporär und vorbehaltlich möglich ist, weil im Menschenstrom der Großstadt genauso wie im Datenstrom des Internets der nächstbeste Reiz der nächste noch bessere Eindruck sein könnte, so etwas wie Konzentration über einen längeren Zeitraum oder gar Commitment scheinen dagegen überhaupt nicht mehr möglich: NEVER FOREVER. Mögen sie sich selbst auch dafür halten – im Wortsinne haben wir es hier jedenfalls nicht mehr mit In-dividuen zu tun, denn mindestens ihre Aufmerksamkeit ist zu keiner Zeit ungeteilt und kommt nie zur Ruhe.

Als rastlos Getriebene, sich Windende präsentiert auch die energetische Choreografie von Nir de Volff diese Menschen in dem schlichten aber ebenfalls dynamisch modulierten Bühnenbild, unterstützt von ebenso treibenden Musikeinspielungen, die in ihrer aufputschenden Wirkung an den Soundtrack von „Lola rennt“ erinnern. Insgesamt ergibt sich dadurch eine Wirkung, die mich am Ende im besten Sinne erschüttert und erschöpft zurücklässt, wohl auch weil die im Stück angelegte Gegenwartsdiagnose eine Form von Wahrhaftigkeit entwickelt, die in gewaltiger Intensität ästhetisch auf den Punkt gebracht wird. Hätte ich nicht vor rund zehn Jahren bei einer sensationellen Inszenierung von Rimbauds „Une saison en enfer“ als Einmannstück am Theater Dortmund aus Scham vor dem kleinen Publikum versäumt, stehend zu applaudieren, wonach ich mir schwören musste, von nun an nie an standing ovations im Theater teilnehmen zu können, weil ich damit dieser großartigen Leistung im Nachhinein Unrecht tun würde – bei diesem Stück von Falk Richter wäre es eigentlich wieder angebracht gewesen. Mehr kann Kunst wohl nicht erreichen, als den Rezipienten regelrecht körperlich anzugehen und mitzunehmen, und genau das gelingt NEVER FOREVER. Für mich der beste Theaterabend seit langem.

 

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