Die dicksten Kartoffeln?

Glücklich wie Lazzaro

Nachdem die Schlussszene des Films von Alice Rohrwacher ausgeblendet ist und man einigermaßen ergriffen mit den ersten Credits des Abspanns konfrontiert wird, drängt sich mit einiger Vehemenz die Frage auf, was man da eigentlich gerade gesehen hat, denn „Glücklich wie Lazzaro“ lässt sich nicht ohne Weiteres einem Genre zuordnen. Der Ausgang ist tragisch, aber auf eine so beiläufige Art, dass der Stempel „Drama“ zwar einerseits irgendwie passen mag, aber dieser ist in seiner Allgemeinheit natürlich immer schon nichtssagend und wird dem ausdrücklich besonderen Charakter dieses Films nicht gerecht – und andererseits deutet ja gleichzeitig der Titel „Glücklich …“ zumindest tendenziell in eine andere Richtung. Besonders ist der Film nämlich gerade auch durch die Vermischung verschiedener Genres, denn was als Dorfgeschichte auf einer Tabakplantage beginnt, endet in der Großstadt als Nahaufnahme auf die Obdach- und Mittellosen, die es in der Not ihres täglichen Existenzkampfes mit dem Gesetz nicht immer allzu genau nehmen können, und so wird nebenbei eine Milieustudie erst des einfachen Lebens in seiner ruralen Reinform, später der Lebenskünstler und Gelegenheitsdiebe im urbanen Raum geboten. Darin eingeflochten finden sich Elemente des Wunderbaren und Fantastischen, sodass sich nicht zuletzt die Kategorie „Märchenfilm“ aufdrängt, aber auch das wäre zu verkürzend und irreführend, und sogar Züge einer Heiligenlegende trägt die Geschichte des Bauern aus der erzkatholischen italienischen Provinz, was bereits in dem biblischen Namen „Lazarus“ mit anklingt.

Die Handlung kann kaum referiert werden, ohne zu spoilern in Bezug auf das, was „Glücklich wie Lazzaro“ seinen einzigartigen Charakter verleiht, aber ich will mal versuchen, es beim Allernotwendigsten zu belassen. Der Zuschauer erhält zunächst Einblick in den Alltag einer bäuerlichen Gemeinschaft, in der gleich zu Beginn ein Heiratsantrag angenommen und mit den wenigen zur Verfügung stehenden Mitteln (es gibt Sardellen zu essen) als Verlobung gefeiert wird. Das Paar gibt dann auch gleich seinen Entschluss bekannt, das familiäre Umfeld sowie das Gehöft verlassen zu wollen, um es in der Stadt zu versuchen, wo das Leben ja „vielleicht leichter“ sei, der als mutig begrüßt wird. Wenig später stellt sich aber heraus, dass das mit dem Weggehen gar nicht so einfach ist, denn die Gemeinschaft lebt auf einer Plantage, die der Marchese De Luna gehört, und die gebietet über alle Arbeitskräfte wie über Leibeigene und würde einen Ausstieg nicht dulden. Der Ertrag aus der Plantage wird von einem Abgesandten der Gräfin regelmäßig kontrolliert, und dieser kreidet den Bauern offenbar jedesmal aufs Neue wieder einen Soll an, um sie in permanenter Bringschuld und künstlich aufgezwungener Abhängigkeit zu halten. Dabei ist immerhin ein proto-klassenkämpferischer Groll der Geknechteten gegenüber der herrschenden Klasse (repräsentiert z.B. durch den Sohn der Gräfin Tancredi De Luna) zu verzeichnen, aber ansonsten wird das System des Frondienstes von niemandem in Frage gestellt – und das, obwohl die Handlung frühestens in den 1990er Jahren zu verorten ist, worauf Handys und Eurodance hindeuten.

Lazzaro nun scheint aber allem Anschein nach nicht einmal die Verachtung seiner Klasse gegenüber den Willkürherrschern zu teilen, sondern begegnet Tancredi genau wie allen anderen völlig arglos – und möglicherweise ist es genau das, was sein „Glück“ ausmacht: Er stellt nichts und niemanden in Frage und macht einfach immer genau das, was ihm gesagt wird. Ebendieses Verhalten stellt ihn aber letztlich vor ein Problem, denn nachdem er sich mit Tancredi sogar ein wenig angefreundet hat und dieser ihn bittet, mehr und mehr Zeit mit ihm zu verbringen, um ihn von der saturierten Langeweile des Privilegierten abzulenken, muss er dafür die eigentliche Arbeit auf der Plantage links liegen lassen. Als Tancredi Lazzaro just jenes zum Vorwurf macht und ihn damit implizit dafür kritisiert, dass er genau das macht, worum er ihn bittet, erzeugt das einen Konflikt, mit dem das einfältige Wesen des jungen Bauern nicht klarkommen kann. Lazzaro bricht anschließend aus seinem gewohnten Verhalten aus, und mit dem Glück ist es dann auch schnell zu Ende – und es geschieht ein Unglück.

Parallel dazu wird durch einen Einbruch von außen (Tancredi täuscht seine Entführung vor, was die Polizei auf den Plan lockt) die Belegschaft der Plantage aus ihrer Knechtschaft befreit und somit die gesamte (Unrechts-)Ordnung des ersten Teils auf den Kopf gestellt. An dieser Stelle hält dann auch das Wunder Einzug in die Handlung und sorgt dafür, dass Lazzaro nach einem Zeitsprung von rund zwanzig Jahren optisch unverändert, d.h. ungealtert auf ehemalige Mitstreiter treffen kann, die aufgrund dessen vor ihm niederknien wie vor einem Heiligen. Das Wiedersehen ereignet sich in einer anonymen Großstadt, wo die früheren Bauern nun als mittellose Kleinkriminelle mehr vegetieren als leben – denn die Befreiung aus der Unterdrückung hat letztlich eine „Befreiung“ in die Obdachlosigkeit bedeutet. Lazzaro wird nun von seinen ehemaligen Kompagnons eingespannt in den alltäglichen Broterwerb, nur kann er ihnen in seiner Unbedarftheit und bedingungslosen Güte bei den dazu oftmals erforderlichen Rechtsbrüchen nicht recht von Nutzen sein. Lediglich sein kundiger Blick bei der Identifikation von essbaren Pflanzen und Kräutern stößt auf Anerkennung bei einem der Schicksalsgenossen, wird aber vom Rest der Gruppe als zu untauglich zur Einnahmequelle gleich wieder verworfen. Schließlich kommt es auch zu einer Wiederbegegnung mit dem Grafensohn Tancredi, welchen es kaum besser getroffen zu haben scheint als seine vormaligen Untergebenen, denn er verfügt zwar über eine Wohnung, aber allem Anschein nach genauso wenig über ein geregeltes Einkommen, sodass er gleichermaßen zu listigen Gaunereien gezwungen ist. Als Lazzaro erfährt, dass sein früherer Herr und Freund (so hat er es jedenfalls zwischenzeitig empfunden) von „der Bank“ enteignet wurde, setzt er sich für Tancredi ein und fragt in all seiner Naivität in einer Bankfiliale nach, ob das Vermögen nicht vielleicht rückerstattet werden könnte. Hier kann sein zutiefst weltfremdes Ansinnen natürlich nur missverstanden werden, und das wird ihm letztlich zum Verhängnis, indem ein aufgebrachter Mob sich aggressiv gegen ihn als Outlaw wendet, der doch nur abseits der geltenden Norm – um die er schlichtweg immer unbekümmert war – Güte zeigen wollte.

Und die Moral von der Geschicht’? Lässt Züge von marxistischer Prägung erkennen, ohne darin aufzugehen: In einem feudalistischen System (dem Gehöft des ersten Teils des Films) lässt sich nur glücklich leben, solange man der Unterdrückung und Willkür nicht gewahr wird, aber in der freien Marktwirtschaft, wo jeder jedem ein Wolf ist, kann das unbedarft gute Individuum natürlich erst recht nicht auf einen grünen Zweig kommen – Capitalism sucks. Ein Ausweg oder Alternativvorschlag für ein richtiges Leben unter den so gegebenen Bedingungen wird in „Glücklich wie Lazzaro“ nicht formuliert, der Film hat keine Antworten. Das könnte trostlos daherkommen, fühlt sich aber im Kino, wo zwischendurch Wunder wirken und etwa die Musik aus der Kirche zu denen auf der Straße entführen, denen bei aufrichtigem Interesse offiziell die Teilhabe verwehrt wird, nicht so an. Für Freunde des eigenwilligen Autorenkinos unbedingt als Auszeit von der Trübe des Herbstes geeignet.

 

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