Der Herr gibt’s, der Herr nimmt’s

A Serious Man von den Coen-Brüdern

Seitdem ich WhatsApp nutze, habe ich dort als Statusmeldung „Just look @ th@ parking lot 🙈“, was vermutlich den meisten meiner Kontakte nicht unmittelbar etwas sagen wird und bisweilen Rückfragen provoziert. Es handelt sich dabei um ein Zitat aus einem meiner – wie ich nach erneutem Wiedersehen vor kurzem ohne Weiteres sagen kann – absoluten Lieblingsfilme: A Serious Man von den Coen-Brüdern. Dieser Film genießt für mich also denselben Status wie der ebenfalls schon an dieser Stelle von mir besprochene Darjeeling Ltd. von Wes Anderson. Was beide Filme verbindet (und durch die hier eingestandene Neigung sicherlich Aufschluss über meine charakterliche Disposition zulässt) ist ihr gelungener Brückenschlag zwischen Komik und Tragik, der sie zu Allegorien des Lebens mit all seinen Facetten macht, wo eben viele Situationen uneindeutig sind und die Komplexe von Familie, Liebe, Sex und Tod in völliger Banalität nebeneinanderstehen und es oftmals ein weinendes und ein lachendes Auge zugleich geben kann.

Wofür steht nun der Parkplatz, von dem in dem Zitat die Rede ist? „Just look at that parking lot“ ist die Quintessenz der Empfehlung, die ein Rabbi der Hauptfigur des Films gibt, als dessen mittelständische Musterexistenz im kleinbürgerlichen Idyll der amerikanischen Suburbia Ende der 60er Jahre mit einem Mal auf der Kippe steht und er eine nicht enden wollende Reihe von Schicksalsschlägen hinnehmen muss, die alle vermeintlichen Gewissheiten plötzlich so sehr in Frage stellen, dass er Antworten sucht und dazu den Rat des Seelsorgers seiner Gemeinde. Nicht nur, dass Larry von den Eskapaden seiner pubertierenden Kinder auf Trab gehalten wird, ihm außerdem sein tendenziell soziopathischer Bruder für unabsehbare Zeit auf der Tasche liegt und er sich dem Bestechungsversuch eines seiner Studenten ausgesetzt sieht, der seine ungenügenden Mathekenntnisse mit Papas Brieftasche ausgleichen möchte – zu allem Übel offenbart ihm seine Frau dann auch noch, dass sie die Scheidung will, um mit dem unsäglich mitfühlenden Nachbarn Cy Abelman („Das muss dir jetzt nicht unangenehm sein, Larry“) ein neues Leben zu beginnen. Und als ob das nicht schon mehr als genug wäre, passiert dann auch noch, was Larry aller Wahrscheinlichkeit nach insgeheim wünscht, ohne es zu wünschen wagen zu dürfen: Der unliebsame Rivale Cy erliegt einem Herzinfarkt – aber das macht natürlich überhaupt gar nichts besser.

Als Larry in seiner Not den Rabbi aufsuchen möchte, um Beistand zu erhalten, ist dieser nicht mal anwesend, und Larry muss mit einer Vertretung vorliebnehmen: dem Junior-Rabbi, kaum dem Theologie-Seminar entwachsen und noch grün hinter den Ohren und ganz offensichtlich ohne jede Erfahrung mit all den Unbilden des Lebens, die Larry gerade mit aller Gewalt ins Gesicht wehen. Und diesem fällt zu Larrys Schicksal nichts Besseres ein als eine hölzerne Theodizee, die in dem Bildnis gipfelt, dass doch auch etwa dem Parkplatz vor dem Gemeindehaus in all seiner Trivialität eine erhabene Schönheit innewohne, die man im Alltag nur wahrzunehmen vergesse: „Der Parkplatz, Larry!“

Von dieser Seite hat Larry also keine Hilfe zu erwarten, und so gibt er seine Bemühungen nicht auf, zum eigentlichen Rabbi vorzudringen, aber dieser Versuch gestaltet sich schwierig und als regelrecht kafkaesk. Die Wege des Herrn sind nun mal unergründlich, und das muss Larry wohl einfach aushalten – zumal auch gerade die Bar Mitzwa seines Sohnes ansteht, und diesem möchte er natürlich die gebotene Zuversicht zum Eintritt in die Religionsmündigkeit mitgeben. Vorläufig muss er sich also gleichsam als moderner Hiob alleine mit seinen Problemen herumschlagen, und die Geschichte dieser göttlichen Prüfungen inszenieren die Coens mit dem gewohnt geistreichen Witz. Das ist nicht nur köstlich amüsant anzusehen, sondern im Hinblick auf die jüdische Kultur außerdem noch ausgesprochen lehrreich für jeden Goi (d.h. Nichtjuden). Für meine Begriffe also ein klarer Fall von „Muss man gesehen haben“!

Die dicksten Kartoffeln?

Glücklich wie Lazzaro

Nachdem die Schlussszene des Films von Alice Rohrwacher ausgeblendet ist und man einigermaßen ergriffen mit den ersten Credits des Abspanns konfrontiert wird, drängt sich mit einiger Vehemenz die Frage auf, was man da eigentlich gerade gesehen hat, denn „Glücklich wie Lazzaro“ lässt sich nicht ohne Weiteres einem Genre zuordnen. Der Ausgang ist tragisch, aber auf eine so beiläufige Art, dass der Stempel „Drama“ zwar einerseits irgendwie passen mag, aber dieser ist in seiner Allgemeinheit natürlich immer schon nichtssagend und wird dem ausdrücklich besonderen Charakter dieses Films nicht gerecht – und andererseits deutet ja gleichzeitig der Titel „Glücklich …“ zumindest tendenziell in eine andere Richtung. Besonders ist der Film nämlich gerade auch durch die Vermischung verschiedener Genres, denn was als Dorfgeschichte auf einer Tabakplantage beginnt, endet in der Großstadt als Nahaufnahme auf die Obdach- und Mittellosen, die es in der Not ihres täglichen Existenzkampfes mit dem Gesetz nicht immer allzu genau nehmen können, und so wird nebenbei eine Milieustudie erst des einfachen Lebens in seiner ruralen Reinform, später der Lebenskünstler und Gelegenheitsdiebe im urbanen Raum geboten. Darin eingeflochten finden sich Elemente des Wunderbaren und Fantastischen, sodass sich nicht zuletzt die Kategorie „Märchenfilm“ aufdrängt, aber auch das wäre zu verkürzend und irreführend, und sogar Züge einer Heiligenlegende trägt die Geschichte des Bauern aus der erzkatholischen italienischen Provinz, was bereits in dem biblischen Namen „Lazarus“ mit anklingt.

Die Handlung kann kaum referiert werden, ohne zu spoilern in Bezug auf das, was „Glücklich wie Lazzaro“ seinen einzigartigen Charakter verleiht, aber ich will mal versuchen, es beim Allernotwendigsten zu belassen. Der Zuschauer erhält zunächst Einblick in den Alltag einer bäuerlichen Gemeinschaft, in der gleich zu Beginn ein Heiratsantrag angenommen und mit den wenigen zur Verfügung stehenden Mitteln (es gibt Sardellen zu essen) als Verlobung gefeiert wird. Das Paar gibt dann auch gleich seinen Entschluss bekannt, das familiäre Umfeld sowie das Gehöft verlassen zu wollen, um es in der Stadt zu versuchen, wo das Leben ja „vielleicht leichter“ sei, der als mutig begrüßt wird. Wenig später stellt sich aber heraus, dass das mit dem Weggehen gar nicht so einfach ist, denn die Gemeinschaft lebt auf einer Plantage, die der Marchese De Luna gehört, und die gebietet über alle Arbeitskräfte wie über Leibeigene und würde einen Ausstieg nicht dulden. Der Ertrag aus der Plantage wird von einem Abgesandten der Gräfin regelmäßig kontrolliert, und dieser kreidet den Bauern offenbar jedesmal aufs Neue wieder einen Soll an, um sie in permanenter Bringschuld und künstlich aufgezwungener Abhängigkeit zu halten. Dabei ist immerhin ein proto-klassenkämpferischer Groll der Geknechteten gegenüber der herrschenden Klasse (repräsentiert z.B. durch den Sohn der Gräfin Tancredi De Luna) zu verzeichnen, aber ansonsten wird das System des Frondienstes von niemandem in Frage gestellt – und das, obwohl die Handlung frühestens in den 1990er Jahren zu verorten ist, worauf Handys und Eurodance hindeuten.

Lazzaro nun scheint aber allem Anschein nach nicht einmal die Verachtung seiner Klasse gegenüber den Willkürherrschern zu teilen, sondern begegnet Tancredi genau wie allen anderen völlig arglos – und möglicherweise ist es genau das, was sein „Glück“ ausmacht: Er stellt nichts und niemanden in Frage und macht einfach immer genau das, was ihm gesagt wird. Ebendieses Verhalten stellt ihn aber letztlich vor ein Problem, denn nachdem er sich mit Tancredi sogar ein wenig angefreundet hat und dieser ihn bittet, mehr und mehr Zeit mit ihm zu verbringen, um ihn von der saturierten Langeweile des Privilegierten abzulenken, muss er dafür die eigentliche Arbeit auf der Plantage links liegen lassen. Als Tancredi Lazzaro just jenes zum Vorwurf macht und ihn damit implizit dafür kritisiert, dass er genau das macht, worum er ihn bittet, erzeugt das einen Konflikt, mit dem das einfältige Wesen des jungen Bauern nicht klarkommen kann. Lazzaro bricht anschließend aus seinem gewohnten Verhalten aus, und mit dem Glück ist es dann auch schnell zu Ende – und es geschieht ein Unglück.

Parallel dazu wird durch einen Einbruch von außen (Tancredi täuscht seine Entführung vor, was die Polizei auf den Plan lockt) die Belegschaft der Plantage aus ihrer Knechtschaft befreit und somit die gesamte (Unrechts-)Ordnung des ersten Teils auf den Kopf gestellt. An dieser Stelle hält dann auch das Wunder Einzug in die Handlung und sorgt dafür, dass Lazzaro nach einem Zeitsprung von rund zwanzig Jahren optisch unverändert, d.h. ungealtert auf ehemalige Mitstreiter treffen kann, die aufgrund dessen vor ihm niederknien wie vor einem Heiligen. Das Wiedersehen ereignet sich in einer anonymen Großstadt, wo die früheren Bauern nun als mittellose Kleinkriminelle mehr vegetieren als leben – denn die Befreiung aus der Unterdrückung hat letztlich eine „Befreiung“ in die Obdachlosigkeit bedeutet. Lazzaro wird nun von seinen ehemaligen Kompagnons eingespannt in den alltäglichen Broterwerb, nur kann er ihnen in seiner Unbedarftheit und bedingungslosen Güte bei den dazu oftmals erforderlichen Rechtsbrüchen nicht recht von Nutzen sein. Lediglich sein kundiger Blick bei der Identifikation von essbaren Pflanzen und Kräutern stößt auf Anerkennung bei einem der Schicksalsgenossen, wird aber vom Rest der Gruppe als zu untauglich zur Einnahmequelle gleich wieder verworfen. Schließlich kommt es auch zu einer Wiederbegegnung mit dem Grafensohn Tancredi, welchen es kaum besser getroffen zu haben scheint als seine vormaligen Untergebenen, denn er verfügt zwar über eine Wohnung, aber allem Anschein nach genauso wenig über ein geregeltes Einkommen, sodass er gleichermaßen zu listigen Gaunereien gezwungen ist. Als Lazzaro erfährt, dass sein früherer Herr und Freund (so hat er es jedenfalls zwischenzeitig empfunden) von „der Bank“ enteignet wurde, setzt er sich für Tancredi ein und fragt in all seiner Naivität in einer Bankfiliale nach, ob das Vermögen nicht vielleicht rückerstattet werden könnte. Hier kann sein zutiefst weltfremdes Ansinnen natürlich nur missverstanden werden, und das wird ihm letztlich zum Verhängnis, indem ein aufgebrachter Mob sich aggressiv gegen ihn als Outlaw wendet, der doch nur abseits der geltenden Norm – um die er schlichtweg immer unbekümmert war – Güte zeigen wollte.

Und die Moral von der Geschicht’? Lässt Züge von marxistischer Prägung erkennen, ohne darin aufzugehen: In einem feudalistischen System (dem Gehöft des ersten Teils des Films) lässt sich nur glücklich leben, solange man der Unterdrückung und Willkür nicht gewahr wird, aber in der freien Marktwirtschaft, wo jeder jedem ein Wolf ist, kann das unbedarft gute Individuum natürlich erst recht nicht auf einen grünen Zweig kommen – Capitalism sucks. Ein Ausweg oder Alternativvorschlag für ein richtiges Leben unter den so gegebenen Bedingungen wird in „Glücklich wie Lazzaro“ nicht formuliert, der Film hat keine Antworten. Das könnte trostlos daherkommen, fühlt sich aber im Kino, wo zwischendurch Wunder wirken und etwa die Musik aus der Kirche zu denen auf der Straße entführen, denen bei aufrichtigem Interesse offiziell die Teilhabe verwehrt wird, nicht so an. Für Freunde des eigenwilligen Autorenkinos unbedingt als Auszeit von der Trübe des Herbstes geeignet.

 

Discord im Orient-Express

The Darjeeling Limited von Wes Anderson

Obwohl die Protagonisten praktisch zu keinem Zeitpunkt auf einer Straße gezeigt werden, haben wir es bei Wes Andersons Film The Darjeeling Limited (2007) natürlich nichtsdestotrotz mit einem Roadmovie zu tun: Anstelle des Individualfortbewegungsmittels Pkw ist lediglich ein Fernreisezug getreten (railroad statt Landstraße), und dass die Reise ostentativ metaphorisch für das Leben als ganzes steht, wird ziemlich schnell ersichtlich. Drei Brüder kommen hier zusammen, die nach der Beerdigung ihres Vaters schon ein Jahr lang keinen Kontakt mehr miteinander hatten, um sich auf eine „spirituelle Reise“ zu begeben (in Indien, wo sonst), die offenbar zum Teil auch als systematische Form von Trauerarbeit gedacht ist, die wieder zu engerem familiären Zusammenhalt führen soll. Das scheint jedenfalls der Plan von Francis, dem vermutlich ältesten Bruder zu sein, der sich wie selbstverständlich als Organisator aufspielt und zudem ohne das Wissen seiner Brüder einen Besuch bei ihrer Mutter, die in einem Kloster im Himalaja lebt und zu der die Beziehung der Söhne anscheinend auch eher angespannt ist, als eigentliches Ziel der Reise ausgeheckt hat.

Da jedoch offenbar keiner der Brüder wirklich zu Kontemplation und spritueller Erfahrung aufgelegt, sondern jeder auf seine Art in eher egozentrischen Komplexen verstrickt ist, bleibt der gelegentliche Tempelbesuch bloße Pose zwischen Shopping und Schuhpolitur. Die kulturelle Alteritätserfahrung führt nicht wie angestrebt zum Überdenken des eigenen Lebensentwurfs sondern verharrt in der herabschauenden Perspektive des imperialistischen Patrons („they are playing cricket with a tennis ball“ – übrigens auch bildsprachlich als Herabschauen von einer Anhöhe formuliert). Die Differenzen zwischen den Brüdern (Bevormundung durch Francis, gegenseitige Geheimniskrämerei bis hin zu Vertrauensbrüchen etc.) gepaart mit grundsätzlich rücksichtslosem Auftreten eskalieren letztlich so weit, dass das Gespann sogar des Zuges verwiesen wird und die Reise komplett abbrechen möchte. Besonders schön veranschaulicht das Scheitern des Projektes einer spirituellen Wiedervereinigung der Geschwister die Szene, in der die Brüder auf Geheiß von Francis auf einem Hügel neben dem liegengebliebenen Zug ein Ritual mit Pfauenfedern (bedeutungsschwanger initiiert durch die Aussage von Francis’ Handlanger „we haven’t located us yet“) durchführen sollen: Am Ende hat jeder etwas anderes mit der Feder angestellt, weil Peter und Jack die Anleitung des Gurus natürlich nicht gelesen hatten.

Nach dem Rauswurf aus dem Zug tritt dort im provinziellen Hinterland dann aber schließlich doch ein Umdenken ein, ausgelöst durch den tragischen Unfalltod eines Jungen, den die Brüder noch vor dem Ertrinken zu retten versucht hatten. Die Teilnahme an der Bestattung des verunglückten Kindes (einschließlich der aus westlicher Perspektive ‚fremden‘ Zeremonie: Man trägt weiß, und der Leichnam wird am Ufer eines Flusses verbrannt) schafft ein Innehalten, bei dem die Whitmans dann doch so weit zu sich kommen und den Todesfall des Vaters ein Stück weit aufarbeiten können (der Film schneidet hier eine signifikant chaotische Szene aus dem Umfeld der damaligen Trauerfeier als Rückblende gegen), dass sie nach diesem Vorfall kurzerhand beschließen, die Reise wie geplant fortzuführen und insbesondere auch der Mutter noch einen Besuch abzustatten. Wenngleich es dann am Ende doch nicht zu einer endgültigen Versöhnung (im buchstäblichen Sinne) zu kommen scheint, hat man wohl doch einen Schritt auf einander zu geschafft und einen Reifeprozess in die konsensuell richtige Richtung eingeleitet.

Der Film bietet eine stimmungsvolle Mischung, bei der neben herrlich skurriler Situationskomik auch schwermütige, tragische Töne nicht ausgespart werden – typisch für Wes Anderson. Die Kamera zitiert mit bisweilen hektischen Schwenks und Zooms die Ästhetik des Eastern, ohne den ebenfalls andersontypischen Puppenkisten-Look (auf die Spitze getrieben in The Grand Budapest Hotel) ganz auszulassen (in The Darjeeling Limited gibt es in dieser Hinsicht eine Kamerafahrt oder vielmehr: eine Zugfahrt vorbei an der Kamera, in der verschiedene, in der (fiktiven) Realität weit voneinander getrennte Räume – so z.B. Jacks Exfreundin sowie Peters schwangere Frau – als benachbarte Abteile desselben Zuges gezeigt werden, wodurch noch einmal plakativ die Metapher von der Reise des Lebens aufgegriffen wird). Zu der atmosphärischen Fülle des Films trägt nicht zuletzt der mit viel Liebe zum Detail ausgewählte Soundtrack bei, der die Bilder mit einer Spanne vom Chanson bis zu den Rolling Stones stimmig untermalt – der Geruch nach Gewürzen der bereisten Region kann freilich nur auf der verbalen Ebene aufgerufen werden. Nach mehrfachem Wiederansehen für mich einer meiner absoluten Lieblingsfilme.

Schöner. Schneller. Weiter.

The Neon Demon von Nicolas Winding Refn

„Denn das Schöne ist nichts/als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,/und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,/uns zu zerstören.“ Obwohl diese bekannten Verse aus Rilkes erster Duineser Elegie auf Engel gemünzt sind, würden sie ein ideales Motto zu Nicolas Winding Refns letztem Film „The Neon Demon“ abgeben – und zwischen Engeln und Dämonen sind die Übergänge, mit Luzifer als dem prominentesten Beispiel, ja ohnehin fließend. Einen „Horrorfilm über Schönheit“ – so Refn in einem Interview, das als Bonusmaterial auf der DVD enthalten ist – habe er hier abliefern wollen, und zweifellos fügt der dänische Regisseur seinem Werkverzeichnis damit einen weiteren verstörenden, atmosphärisch dichten Film hinzu.

Eine Handlung im engen dramaturgischen Sinne ist kaum vorhanden, und der Film rückt damit in die Nähe des zum Fin de siècle verbreiteten lyrischen Dramas. Anstelle von Handlungsfluss begegnet eher eine Abfolge von Szenen, die sowohl durch eine gewisse dramaturgische Isoliertheit aufgrund undefinierter Zeitsprünge als auch durch ihre Tendenz zu interner Statik vielleicht noch treffender als „Bilder“ zu bezeichnen wären. Die jugendliche Jesse kommt nach L. A., um dort eine Modelkarriere zu beginnen, bei der sie schnell außerordentlich erfolgreich durchstartet. Mit ihrer makellosen Schönheit gewinnt sie nicht nur mühelos Aufträge sondern weckt auch das sexuelle Begehren – nicht nur von Männern. Sehr bald zieht sie dadurch aber auch den Neid ihrer Kolleginnen auf sich, die sich zunächst als Freundinnen angeboten hatten, sich aber in der Folge doch als in der Hauptsache Konkurrentinnen erweisen und ihr schließlich auflauern, um sie in jeder Hinsicht zu Fall zu bringen. Darauf folgt noch eine Szene, die in aller Drastik vor Augen führt, wie sich vermeintliche Freundinnen in dieser Branche bisweilen zerfleischen – nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selbst ‒, und als Schlussbild noch eine anonyme Frau in einer Wüstenlandschaft.

Wer ist hier nun der „Neon Demon“? Jesse für sich genommen wohl nicht, denn sie wird ausdrücklich als Unschuld vom Lande eingeführt und verfolgt auch keinerlei böse Absichten sondern wird vielmehr selbst in mehrfacher Hinsicht zum Opfer (u.a. von einem Puma, der in ihr Appartement eindringt und einen Teil der Einrichtung zerstört, sowie von ihrem Vermieter, der sie für den entstandenen Schaden haftbar machen möchte und später noch als potenzieller Vergewaltiger auftritt). Als Logo auf dem Filmplakat sieht man ein gleichseitiges Dreieck, das aus vier identischen gleichseitigen Dreiecken zusammengesetzt ist. Refn erklärt dazu, dass man sich bewusst für das auf der Spitze stehende Dreieck als Symbol für Weiblichkeit entschieden habe. Die selbstidentische Form aus vier Dreiecken bildet somit auch die Figurenkonstellation ab: Jesse inmitten ihrer drei Kolleginnen. Das Dämonische entsteht also erst in der Dynamik zwischen diesen vier Frauen, die in einer Branche arbeiten, die sich ganz um Schönheit dreht und in der die Halbwertszeit der meisten Beteiligten eher kurz ist, da für die immer schneller erlahmende Aufmerksamkeit des Publikums ständig etwas Neues und sowieso immer Jugendliches (gr. „νέον“) präsentiert werden muss.

Mit Blick auf meinen letzten Beitrag kann auch hierin wieder eine Kritik an einer Gesellschaft gesehen werden, die in ihrer Mainstream-Kultur weitgehend einem oberflächlichen Schönheitskult und Jugendwahn verfallen und dadurch massiv verunsichert ist. Es gibt also gewisse Berührungspunkte zwischen „The Neon Demon“ und dem Film „Embrace“, mit dem Taryn Brumfitt und Nora Tschirner aktuell versuchen, dem massenmedial kolportierten Primat des (vermeintlich) schönen Körpers etwas entgegenzusetzen. Bei Refn begegnet solche Kritik aber keineswegs plakativ sondern höchst subtil in einem hochgradig artifiziellen und durchgestylten Film, der als visuelle – und einmal mehr auditive! (wie schon bei „Drive“ wird die Atmosphäre zu einem guten Teil von einem kongenialen Soundtrack getragen) – Erfahrung jedem Cineasten ans Herz gelegt werden kann.

Vision Is a Dancer

Lars von Triers Ausnahmemusical Dancer in the Dark

„In a musical, nothing dreadful ever happens.“ Wenn es ein für allemal stimmen würde, was die von Björk verkörperte Selma in Lars von Triers Dancer in the Dark (2000) sagt, dann dürfte der Film wohl nicht als Musical angesehen werden. Allerdings gibt es regelmäßig Gesangseinlagen, die obendrein meist eingebettet sind in teilweise aufwändig choreografierte Tanzszenen, sodass die einschlägigen Genrekonventionen zweifellos bedient werden, und zudem wird Selma noch als absolute Musical-Enthusiastin gezeichnet, die nicht nur Klassiker des Genres im Kino bewundert sondern auch selbst in einer Laiengruppe für ein Musical probt. Es steht somit außer Frage, dass von Trier auf mehreren Ebenen eine Hommage an die Tradition des Musicalfilms abliefert, nur tut er dies auf die ihm eigentümliche Weise. Er bricht nämlich mit der Konvention, die das Musical üblicherweise mit leichten Kömodienstoffen vermählt, und präsentiert stattdessen ein Trauerspiel von geradezu antiker Schicksalsschwere: Der Meister des Feelbad-Movies drückt dem Genre seinen depressiven Stempel auf und prägt es um zum Woe-sical.

Als ich den Film vor Jahren zum ersten Mal sah – es muss im Programm von arte oder 3sat gewesen sein -, wusste ich noch nichts von dem Werkkontext, aber den Namen des Regisseurs ebenso wie den Kloß im Hals, den mir sein Film gemacht hatte, sollte ich danach nicht mehr vergessen. Zu intensiv und nachhaltig war das Gefühl von Bestürzung und buchstäblichem Mitleiden, das sich anlässlich der Ungerechtigkeit einstellt, von der Selma hier mit unerbittlicher Härte zermalmt wird. Von Trier zieht dazu aber auch alle Register: Da die alleinerziehende Mutter an einer Erbkrankheit leidet, die ihr in Kürze vollends das wenige noch verbliebene Augenlicht rauben wird, arbeitet sie aufopferungsvoll daran, durch Überstunden und einen entbehrungsreichen Lebensstil so viel Geld auf die Seite zu schaffen, um ihrem Sohn eine Operation zu ermöglichen, die ihn davor bewahren soll, von demselben Schicksal ereilt zu werden. Aufgrund ihrer fortschreitenden Erblindung gelingt es Selma jedoch immer weniger, in der Fabrik das verlangte Arbeitspensum zu erbringen, und nachdem sie durch eine Unachtsamkeit auch noch eine Maschine beschädigt hat, wird sie schließlich entlassen. Als sie die somit letzte Lohntüte in ihrer Spardose verstauen möchte, muss sie feststellen, dass das mühsam angesammelte Geld verschwunden ist. Völlig zurecht verdächtigt sie ihren Vermieter Bill, dem sie sich kurz zuvor in Freundschaft anvertraut und dafür im Gegenzug erfahren hat, dass dieser von so großen Geldsorgen geplagt wird, dass er schon mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Anders als Selma hat der Zuschauer außerdem gesehen, dass Bill ihre Blindheit ausgenutzt hat, um heimlich zu beobachten, wo sie ihr Erspartes aufbewahrt. Als Selma Bill zur Rede stellt, um ihr Geld zurückzufordern, streitet dieser die Tat auch gar nicht ab, bezichtigt sie aber gegenüber seiner Frau dennoch des Diebstahls und nötigt sie schließlich dazu, das zu tun, wozu er selber nur noch nicht imstande gewesen ist: seiner Scham ein Ende zu setzen und ihn zu töten. Daraufhin wird Selma als Raubmörderin gesucht und muss letzten Endes auch die ganze Härte von Justitia, die mit ihren verbundenen Augen bekanntlich ebenso wenig gut sehen kann wie Selma selbst, am eigenen Leib erfahren.

Zwei Welten prallen hier also aufeinander: die heiter-unbeschwerte des Musicals, in der „nie etwas Schreckliches passiert“, und eine eher pessimistische Version der Wirklichkeit, in der Menschen mit niederträchtigsten Motiven für so manche Ungeheuerlichkeit sorgen. Erstere wird prototypisch von Selma verkörpert, die gleichsam das Musical ganz lebt, und der Kontrast mit der prosaischen Realität erzähltechnisch noch dadurch hervorgehoben, dass die Musical-Szenen teilweise als ihrer Fantasie entsprungen markiert werden. Ähnlich wie Brechts guter Mensch von Sezuan flüchtet sich Selma in eine alternative Welt, wenn die Zumutungen der realen zu viel für ihr kindlich unschuldiges Gemüt werden, nur ist es hier keine aggressivere Version ihrer selbst, die Abhilfe schafft, sondern Tanz und Gesang als Analgetikum. Rhythmus und Melodie machen ihr so nicht nur die Monotonie der Fabrikarbeit erträglich sondern helfen später auch dabei, die Bluttat zu ratifizieren (so erhebt sich etwa der getötete Bill noch mal zum Tanz, um sie im Gesang freizusprechen: „You are forgiven“), und tragen am Ende sogar über die Mordanklage und Verurteilung hinweg.

Und den Zuschauer trösten sie für die Bitterkeit der Geschichte. Der ist durch die an die Intimität privater Familienvideos gemahnende zoomfreudige Kamera nämlich ansonsten so dicht am Geschehen, dass ihm die erschütternden Ereignisse wirklich nahegehen und die (von Björk selbst geschriebenen) Lieder somit für eine willkommene illusionsbrechende Abwechslung sorgen. Zumindest hatte ich beim Wiederbetrachten den Eindruck, dass die Musik der schweren Tragik des Stoffes doch einige Leichtigkeit entgegensetzt und so dem Kloß im Hals entgegenwirken kann – wenngleich von Trier sie in der Schlussszene als der Bewältigung einer grausamen Realität gegenüber fatal illusionär buchstäblich abwürgt. Eine lohnende Erfahrung – obendrein mit Björk als schauspielerischer Offenbarung, die einen etwas ratlos zurücklässt darüber, dass dieser Karriereweg praktisch nicht weiter beschritten wurde -, eine Erfahrung also, die man ruhig mehrfach machen kann, und somit ein würdiger Auftakt für meine neue Rubrik „Lieblinge“.

Bis dass der Tod

The Broken Circle von Felix Van Groeningen

In einem seiner Dialoge lässt der Philosoph Platon den Mythos von den Kugelmenschen erzählen. Dieser besagt, dass die Menschen in der Urzeit kugelförmige Körper mit zwei Gesichtern auf dem Kopf und jeweils zwei Paar Hände und Füße gehabt haben sollen. Zur Strafe für einen Aufstand gegen die Götter soll Zeus sie dann aber in zwei Hälften gespalten haben, was zu den Körpern sowie der Aufteilung in zwei Geschlechter geführt habe, die uns bis heute vertraut sind. Diese Verlusterfahrung als Trennung einer vormaligen Einheit soll der Ursprung sein dafür, dass jedem Menschen heute der Drang innewohnt, sich mit einem anderen Menschen zu vereinigen, um den verloren gegangenen Zustand von Vollkommenheit und Glück wiederherzustellen, also der Ausgangspunkt von erotischer Anziehung und Liebe. (Übrigens werden in dem Mythos auch die homosexuellen Varianten dieser Konstellation berücksichtigt, denn neben Frau-Mann- soll es auch Doppel-Mann- und Doppel-Frau-Kugelmenschen gegeben haben – so viel LGBT ist dem Abendland quasi schon in die Wiege gelegt.)

Unterschwellig prägt diese Vorstellung bis heute jedes Konzept von Soulmate und „besserer Hälfte“, und so mag sie zum Teil auch in dem Filmtitel The Broken Circle mitschwingen – ist der Kreis doch immerhin die zweidimensionale Entsprechung zur Kugel, und der Film unstreitig dem Thema „Glück und Unglück in der Paarbeziehung“ gewidmet. Episodenhaft bekommt der Zuschauer hier erzählt, wie sich die beiden Lebenskünstler Didier und Elise kennenlernen und ineinander verlieben, wie sie zusammen leben und eine Tochter bekommen und sich schließlich von einem Schicksalsschlag getroffen sehen, an deren Auswirkungen das dann auch nicht mehr ganz junge Glück letztlich auf höchst tragische Weise zerbricht. Die Geschichte der Familie wird dabei nicht chronologisch erzählt, sondern die Episoden springen in der Zeit hin und her, sodass sich die zeitliche Abfolge der Geschehnisse für den Zuschauer erst nach und nach erschließt – auf diese Weise ist schon die Erzähltechnik im Film ihrerseits „broken“.

Mehr oder weniger klar genannt als Bezugspunkt für den titelgebenden Kreis wird im Film selbst aber die zirkuläre Zeitvorstellung von Tod und Wiedergeburt im Hinduismus/Buddhismus bzw. einer eklektizistischen Anknüpfung daran durch die New-Age-Religiosität, der Elise anzuhängen scheint. So hält Didier ihr an einer Stelle vor: „Der Kreis ist zerbrochen, mein Schatz, Maybelle kommt nicht wieder“ (die Rede ist von der gemeinsamen Tochter Maybelle, die noch im Vorschulalter an Leukämie erkrankt und trotz strapaziöser Therapieanstrengungen schließlich verstirbt). Die beiden Figuren verkörpern letztlich zwei entgegengesetzte Pole: Didier einen radikal positivistischen Rationalismus und Elise eine dem Irrationalen gegenüber wenigstens aufgeschlossene (natur-)religiöse Spiritualität. Nach dem Einbruch des Todes in die traute Paarharmonie wird jeder der Partner nun verstärkt auf die eigene Disposition zurückgeworfen, und die Gegensätze, die zuvor eine stabile Einheit gebildet haben, finden inmitten von Trauerarbeit und gegenseitigen Schuldzuweisungen nicht mehr zueinander. Besonders deutlich offenbart sich das in einer intensiven Schlüsselszene, in der Didier von der Konzertbühne herab dem verdutzten Publikum manisch exaltiert eine atheistische Standpauke hält, was endgültig den Bruch der Beziehung besiegelt und Elise veranlasst, im Wortsinne sang- und klanglos (die beiden spielen zusammen in einer Band) zu verschwinden.

Liebe und Tod waren schon immer die kapitalen Themen der conditio humana und damit auch der künstlerischen Auseinandersetzung, und wenn letztere reüssiert, ist das ein Garant für eine große Geschichte von ergreifender Intensität. Eine solche liegt mit The Broken Circle zweifellos vor, und das liegt nicht zuletzt an den zahlreichen Bluegrass-Einlagen, die die Handlung begleiten und musikalisch untermalen. Als Perle aus dem Programm der Berlinale 2013 von arte anlässlich des aktuellen Festivalstarts ausgestrahlt, und wenig überraschend mehrfach international preisgekrönt. Man darf gespannt sein, womit beim diesjährigen Programm in Berlin nachgelegt wird.

Kino transzendental

Schatten (Eurydike sagt) in der Inszenierung von Katie Mitchell an der Schaubühne

Es ist leicht vorstellbar, wie die Kritik einer theaterpuristischen Haltung an der Regiearbeit von Katie Mitchell ausfallen könnte: Hier biedert sich das Theater ja wohl auf unziemliche Weise dem Kino an, indem es dem Publikum letztlich in der Hauptsache einen Film präsentiert, und gibt so mindestens einen Teil seines spezifischen Charakters preis. Einer solchen Kritik würde aber entgehen, dass dabei immerhin ein Publikum neu für das Theater gewonnen werden könnte, das ansonsten eher dem Kinosessel zuneigt, und der Vorwurf der Aufgabe des eigentlichen Wesens von Theater ginge darüber hinaus völlig fehl. Vielmehr schafft Katie Mitchell es nämlich, die besonderen Bedingungen des Theater progressiv zu nutzen und einmal auf ganz eigene Weise vor Augen zu führen: Zwar wird die Bühne von einer Leinwand überspannt, auf die ein Film projiziert wird, aber dort wird der Blick des Zuschauers immer nur vorübergehend ruhen, denn auf der Bühne lässt sich gleichzeitig mitverfolgen, wie dieser Film im selben Augenblick entsteht, und das macht den besonderen Charakter dieser Inszenierungspraxis aus, der wiederum durch die Theatersituation überhaupt erst ermöglicht wird. Was man hier erleben kann ist eine Art von Kino, die Hand in Hand mit der eigenen Metaebene daherkommt: die Schnittfassung eines Films und gleichzeitig sein Making of – oder (in Anlehnung an das Konzept der romantischen Ironie sowie die angrenzende Terminologie) eben Kino transzendental.

Und das ist wirklich spannend zu beobachten, denn die Begrenztheit des Bühnenraums und die Live-Situation erfordern natürlich eine akkurat getaktete Choreographie von Schauspielern und Kamerateam, bei der auch schon mal der Orpheus-Darsteller Renato Schuch Handreichungen hinter der Kamera machen muss, während die von ihm verkörperte Figur sich gerade im Off der Leinwandaufmerksamkeit befindet. Und überhaupt geht es dabei natürlich turbulent drunter und drüber, wenn z.B. für einen Szenenwechsel das Bühnenbild links umgebaut werden muss, während die Kamera gerade vorübergehend auf die Szene rechts gerichtet ist, damit dann nahtlos auf die neue Einstellung links geschnitten werden kann. Man erahnt, welches Ausmaß an Probenarbeit hier nötig gewesen sein muss, denn Schnittfehler oder bloß Mängel würden dem hollywood-verhätschelten Auge ja sofort auffallen, das durch die avancierte Bildsprache des produzierten Films ansonsten in jedem Fall angesprochen wird. Das Team erweist sich hierbei jedoch als bestens eingespielt und holt sich dafür nach dem Vorhang auch verdientermaßen gleichberechtigt mit den Schauspielern den hochverdienten Applaus ab.

Die Darstellung der Eurydike – auch das gehört zur besonderen Handschrift von Katie Mitchell – geschieht übrigens in Arbeitsteilung: Während Jule Böwe den mimischen Part in der eigentlichen Szene übernimmt, leistet Stephanie Eidt beinah den gesamten verbalen Ausdruck allein in einer Sprecherkabine am Rand der Bühne. Dieses Verfahren ermöglicht es, das Geschehen auf der Leinwand live vom inneren Monolog der Hauptfigur begleiten zu lassen, d.h. der Zuschauer lauscht Eurydikes Gedankenstrom als Stimme aus dem Off, während die Lippen der Mimin im Bild reglos bleiben. Gleichzeitig kommt es auch dem Text von Elfriede Jelinek entgegen, deren Stücke meiner Erfahrung nach eher im Grenzbereich der dramatischen Form siedeln und auf ihre Art somit ein tendenziell episches Theater realisieren (ohne dass hier an Brecht gedacht werden soll).

Die eigentliche Handlung von Jelineks Variation des Stoffes von Orpheus in der Unterwelt bleibt recht blass und schematisch. Orpheus begegnet hier als Rockstar (von Eurydike immer nur als „der Sänger“ bezeichnet), dessen erotische Zuwendung seine Frau angesichts seiner Popularität notgedrungen mit zahlreichen Groupies teilen muss – ob realiter oder nur in ihrer Einbildung, bleibt allerdings unklar, denn die Perspektive gelangt wie bereits angedeutet niemals über den (deshalb: epischen) Monolog ihrer Imagination hinaus. Beim Versuch von Orpheus, sie nach einem Schlangenbiss wieder aus dem Jenseits in das Reich der Lebenden zurückzuholen, gelangt sie nun zu dem Schluss, dass ihr ein Typ, der in ihr nichts weiter als ein austauschbares Objekt für seine Begierde sieht, doch eigentlich gestohlen bleiben kann. Sie sagt sich also von ihrem Mann los, sodass die endgültige Verbannung in die Unterwelt anders als in der mythischen Vorlage nicht als Unfall passiert, sondern als Akt der Ermächtigung der Frau, die sich bewusst für ein Exil entscheidet.

Das ist als feministische Umdeutung des Orpheus-Stoffes eine interessante Idee, taugt dann aber leider doch nicht ganz zur abendfüllenden Unterhaltung und verblasst als Plot meines Erachtens daher deutlich gegenüber der spektakulären Inszenierungstechnik, womit wir zu meinem einzigen Kritikpunkt gelangen: Ich hatte früher bereits eine andere Inszenierung von Katie Mitchell an der Schaubühne gesehen, bei der schon genau dasselbe Verfahren von Meta-Kino zur Anwendung gekommen ist. Dadurch war der Effekt dieser Technik für mich schon etwas abgenutzt und meine Aufmerksamkeit möglicherweise weniger durch die Form vom Inhalt abgelenkt. Was nun diesen angeht, konnte ich mich letztlich des Eindrucks nicht erwehren, dass die von mir geschätzte Elfriede Jelinek in „Schatten (Eurydike sagt)“ unterhalb ihrer sonstigen Möglichkeiten bleibt und schon mal gewitzter wortverspielte Texte produziert hat und dass die Erzählung nicht frei ist von einer gewissen Langatmigkeit. Mitchell-Neulingen sowie theaterfremden Cineasten und insbesondere Liebhabern des Film noir, die noch nicht wussten, dass sie ihrer Leidenschaft anhand dieses Stückes auch mal im Theater frönen können, kann der Besuch der Schaubühne aber unbedingt empfohlen werden, denn es erwartet sie ein atmosphärisch dichtes Spektakel.

Im (ausge)siebten Himmel

The Lobster von Yorgos Lanthimos

Wir sind natürlich wirklich so. Man würde zwar auch damit durchkommen, sich hinter Begriffen wie „Dystopie“ und „Satire“ wegzuducken, und könnte sich die Zumutungen der in diesem Film präsentierten (je nach Gemüt: traurigen) Wahrheit schenkelklopfend vom Leib halten, aber dabei handelte es sich letztlich nur um einstudierte sublimierte Abwehrmechanismen gegen die Bestie Mensch in uns. Ich habe mal von einer Studie gehört, in der nachgewiesen wurde, dass paarungswillige Froschweibchen sich signifikant zu solchen Männchen hingezogen fühlen, deren lautes und sonores Quaken schon aus der Ferne einen entsprechend kräftigen Körperwuchs signalisiert. Getestet wurde das mit Tonbandaufnahmen unterschiedlicher Froschstimmen, die per Lautsprecher im Biotop angeboten wurden. Außer den Weibchen haben die attraktiven Stimmen aber auch Männchen angelockt, die spitzgekriegt haben, dass da gar kein Rivale aus Fleisch und Blut am Werke ist und sie also in der Nähe des Lautsprechers bequem zurückgelehnt und ohne eigene Anstrengung die ein oder andere Partnerin abstauben können, die sich liebestoll und von dem Soundangebot gefügig gemacht dort einfindet. Auch so geht survival of the fittest. Also: natürlich würden auch wir Menschen wie im Film Nasenbluten respektive Gefühlskälte simulieren, wenn wir dadurch einen erwünschten Paarungserfolg begünstigen könnten.

So viel zum wahren Kern dieses außergewöhnlichen Films „The Lobster“. Die Gesellschaft, unter deren Bedingungen sich hier Partnersuche bzw. die Verweigerung derselben entfaltet, ist aber nichtsdestotrotz satirisch überspitzt und dystopisch: Wer durch Tod des Partners oder Trennung sich als alleinstehend wiederfindet, wird umgehend interniert in einer Art Club-Urlaub mit unaufhörlicher Singleparty und bekommt 45 Tage Zeit, sich dort neu zu verlieben. Gelingt das nicht, ist das Leben verwirkt – zumindest das als Mensch, denn nach Ablauf der Frist erfolgt die Zwangstransformation zu demjenigen Tier, das man bei seiner Einweisung als Wunschexistenz im Falle eines Misserfolgs angegeben hat. Immerhin hat man noch die Chance, die Dauer des Aufenthalts im Hotel und damit die Partnersuche zu verlängern, wenn man Erfolg bei der Jagd auf die „Loners“ hat – diese bilden eine dissidente und vom Mainstream normativ zum Abschuss freigegebene Alternativgesellschaft von Onanisten im Wald, bei denen wiederum jede Form von Flirt und Paarungsabsicht verpönt ist und bestraft wird. Im Hotel ist umgekehrt (selbstredend) Masturbation unter Strafe gestellt, während die Insassen gleichzeitig durch den Zimmerservice systematisch sexuell angetörnt werden, um durch die unbefriedigte Erregung den Leidensdruck und damit letztlich die Motivation bei der Partnersuche anzustacheln – sozusagen zur Steigerung der Erfolgsaussicht. Angesichts solch harter Bedingungen fragt der Lobster-Anwärter David beim Einchecken zur Sicherheit noch einmal nach, ob eine „bisexual option“ verfügbar sei – denn das würde ja rein rechnerisch die Aussicht auf einen Paarungserfolg erhöhen. Eine solche gibt es aufgrund verwaltungstechnischer Probleme jedoch nicht mehr, und so muss sich David voll und ganz darauf konzentrieren, in der einmal aktenkundig gewordenen heterosexuellen Orientierung zu reüssieren, um dem Hummerschicksal zu entgehen.

hummer

Salvador Dalí: Hummer- oder Aphrodisisches Telefon (1936)

In der Rolle des David brilliert Colin Farrell mit einem unnachahmlichen Mienenspiel, das die Groteske der fiktiven Welt perfekt widerspiegelt. Während sich in dem Animationsprogramm des Hotels eine Absurdheit an die andere reiht, jede noch unwahrscheinlicher als die vorherige (herrlich die Rollenspiele zur Veranschaulichung der Vorzüge des Paarlebens), bleibt Davids Mimik indifferent konzentriert und schicksalsergeben – und gleichsam genauso hündisch wie die seines Bruders, der das Programm schon erfolglos durchlaufen hat und ihm nun nur noch in Gestalt des treuen Vierbeiners zur Seite stehen kann. Grandios auch Farrells Darbietung von halb unterdrücktem kindlichen Zorn, in den David verfällt, als er erfährt, dass seine spätere Partnerin (kongenial verkörpert von Rachel Weisz) ihrer eine mögliche Paarbeziehung in Normalität rechtfertigenden Gemeinsamkeit beraubt wurde.

Überhaupt ist die Rolle der Gemeinsamkeit in der hier entworfenen Gesellschaft bemerkenswert. Natürlich gilt auch in unserer Lebenswirklichkeit ein „Gleich und gleich gesellt sich gern“ sowie das (unterschwellig narzisstische) Phänomen, dass wir uns umso eher in einen Menschen verlieben, je mehr von uns selbst wir in ihm wiederzufinden meinen, aber in der Lobster-Welt wird das gleichsam zum unabdingbaren Ausweis der Zusammengehörigkeit. Hier wird ein Paar offenbar nur dann von der Gesellschaft akzeptiert, wenn es eine handgreifliche Gemeinsamkeit (z.B. Anfälligkeit für Nasenbluten, Gehfehler oder Kurzsichtigkeit) vorweisen kann. Und so gilt es als schweres Vergehen, das hart bestraft wird, wenn eine solche paarbildende Gemeinsamkeit von einem Beteiligten nur fingiert wird, um der Transformation zum Tier zu entgehen (wie es sowohl David in Form von Gefühlskälte als auch der Limping Man mit dem Nasenbluten praktizieren). Die Notwendigkeit der evidenten Gemeinsamkeit als Grundlage der Paarbeziehung führt im Film letztlich sogar zu einem hochdramatischen Showdown, der zusammen mit dem Protagonisten auch dem Zuschauer einiges abverlangt aber der hier nicht weiter vorweggenommen sein soll.

Der dramatische Aspekt wird schon im Laufe des Films immer wieder durch den Einsatz von Musik akzentuiert, die quasi plakativ auf die Traditionen von Suspense oder Horror anspielt. Diese Bezugnahme ist aber als parodistisch zu werten, denn durch die radikal groteske Überzeichnung sowie eine regelrechte Lawine von Absurditäten, insbesondere in den (Flirt-)Dialogen, überwiegt letztlich Komik als Haupteindruck, der nicht zuletzt durch das bereits hervorgehobene Mienenspiel des Hauptdarstellers Farrell mitgetragen wird. Ein teilweise makabrer aber köstlich unterhaltsamer Spaß und fulminanter Genremix, der nicht ohne Grund mit zahlreichen Preisen (u.a. in Cannes) ausgezeichnet wurde und unbedingt zum Anschauen zu empfehlen ist.

Wurst aufschneiden mit Käsereibe

Toni Erdmann von Maren Ade

Szenenapplaus im Kinosaal? Bis gestern Abend war mir so etwas eigentlich nur bekannt als eine Art Geste der Konsolidierung eines Publikums, das einander signalisiert, dass es genau das geboten bekommt, was es erwartet hat, und sich darin bestärkt, dass es genau das erwartet hat und als dieses Publikum weiter erwarten wird – ein Schibboleth gleichsam von Gleichgesinnten, affektiert vorgebracht und aus Kalkül (und oftmals ist es vermutlich auch im Theater im Grunde nichts anderes). Anders an diesem Abend. Hier ereignet sich noch echter Szenenapplaus, nicht aus Kalkül sondern aus Verblüffung und als spontaner Ausdruck von Begeisterung darüber, was sich da gerade auf der Leinwand abspielt und dabei das Publikum dermaßen zu überwältigen vermag, dass es sich für einen Moment vergisst, ebenso wie die Tatsache, dass niemand zugegen ist, dem der Applaus gespendet werden kann, außer ihm selbst. Insofern zeichnet sich zwangsläufig letztlich doch wieder diese Figur von autoreferenziellem, konsolidierendem Beifall ab, aber nichtsdestotrotz ist mir ein solches Ausmaß von echter Spontaneität im Applaus glaube ich noch nirgendwo sonst untergekommen – auf keinen Fall im Kino.

Und dabei gibt es nicht einmal eine großartige Handlung. Ein komischer Kauz im Pensionsalter, der offenbar als Geschiedener allein lebt und mit einem ausgeprägten Hang zu infantilen Scherzen seine wenigen Sozialkontakte – Besuche bei seiner Mutter und seiner Ex-Frau sowie das ein oder andere Engagement als Musiklehrer – routiniert auf die Probe stellt. Zu seiner eigenen Tochter Ines, die als Unternehmensberaterin in Bukarest arbeitet und schon auf dem Karrieresprung nach Schanghai ist, hat er beinahe überhaupt keinen Kontakt mehr. Nach dem Tod seines Hundes, der ihn sozusagen von allen häuslichen Pflichten entbindet, macht er sich daran, die Beziehung zu seiner Tochter wieder aufleben zu lassen, und entschließt sich zu einem Spontanbesuch in der rumänischen Hauptstadt. Äußerer Anlass ist Ines’ Geburtstag, zu dem Winfried Wurst und eine Käsereibe als Geschenk mitbringt. Die Tochter ist von so viel Spontaneität nun nicht gerade angetan – weiß sie doch um die schalkhafte Unberechenbarkeit ihres Vaters -, aber die wenigen Zeitfenster, die ihr Terminkalender ihr in ihrem karrieristischen Übereifer lässt, hält sie dann doch für Winfried offen, und da es sich kaum vermeiden lässt, nimmt sie ihn sogar mit zu halboffiziellen Geschäftsterminen. Dabei gelingt es Winfried nur bedingt, seiner Tochter zuliebe über seinen Schatten zu springen und sich zusammenzureißen, und so bleibt es nicht aus, dass er wie gewohnt voller Schabernack und zunehmend systematisch in der Rolle der clownesken Kunstfigur „Toni Erdmann“ Ines’ Geschäftsbeziehungen unterminiert. So lässt sich Toni in einer Szene etwa, während Ines mit ihrem Chef die nächsten Karriereoptionen diskutiert, im Hintergrund klassisch auf einem Furzkissen nieder.

Bestes Komödien-Setting im Consulting-Milieu also, und das wird mit seiner hohlen Etikette von oberflächlichen (Un-)Verbindlichkeiten und stumpfsinnigem business talk auch kräftig auf die Schippe genommen. Aber weil es gleichzeitig auch immer um die ganz existenzielle Vater-Kind-Beziehung geht und dabei die großen Fragen aufgeworfen werden, gibt es durchweg auch ernste Untertöne. „Da schwirren jetzt aber ein paar ganz schön große Begriffe herum“, weicht Ines etwa ihrem Vater aus, als der sich danach erkundigt, ob sie denn eigentlich glücklich sei oder jedenfalls zufrieden mit ihrem Leben, und so muss dieser noch drastischer zum Holzhammer greifen, um seiner Tochter klar werden zu lassen, dass eine Karriere allein mit Cashflow und High SocietyLifestyle vielleicht noch kein ganzes Leben ausmacht – nur dass es in seinem Fall (more metaphorico) der Quietschehammer des Clowns ist.

Sinnfälliger Höhepunkt für den letztlich wohl erfolgreich geführten Befreiungsschlag mit diesem Hammer ist der Brunch zu Ines’ Geburtstag, der unverhofft im Zeichen der Spannung zwischen Nacktheit und Maskerade steht. Nacktheit als Symbol für den Ausbruch aus der bisweilen lebensfeindlichen Zivilisation und für das Abstreifen von Etikette ist – sozusagen durch stets bemühte und oft wenig gelungene künstlerische Realisierung – an sich sicherlich alles andere als originell. Andererseits ist sie wesentlich aber auch der eo ipso natürliche, weil per se selbstverständliche Ausdruck für einen solchen Ausbruch, und als gelungener Ausdruck dieser Selbstverständlichkeit findet er sich hier eingesetzt – zumal sie von den Akteuren dann doch noch eine stützende Rückbindung erfährt und als vermeintliche Technik zum Teambuilding ambivalent anschlussfähig gehalten wird.

Abschließend nur noch ein Wort zu der womöglich monumental anmutenden Länge von 162 Minuten: Diese Zeit verfliegt ganz beiläufig, weil der Film von Maren Ade vor Originalität nur so birst und auf so vielschichtige Weise kurzweilig ist, dass nicht eine Sekunde Langeweile aufkommen kann. Meine unbedingte Empfehlung für Toni Erdmann.

Zuckerbrot gleich Peitsche

Venus im Pelz von Roman Polanski

„Eine große Rolle spielt in diesem Film das Licht“, sagt Hans Helmut Prinzler in seiner Anmoderation von Roman Polanskis Venus im Pelz auf arte, aber das trifft eigentlich nur bedingt zu. Einerseits stimmt es selbstverständlich – wie es auf jeden anderen Film aber auch zutrifft -, denn bei einem Film ist Licht natürlicherweise der Informationsträger für alles Visuelle, was man sich abseits der Projektion in einem Kinosaal vielleicht zu wenig bewusst macht. In dieser Hinsicht ist die Aussage aber trivial, und so ist sie von Prinzler natürlich auch nicht gemeint. Er zielt vielmehr darauf ab, dass Polanski in seinem Film einen sehr bewussten Einsatz von Lichttechnik und -design vorführt, um eine gewisse Atmosphäre zu erzeugen bzw. Stimmungen zu transportieren. Der Anlass dafür ist aber schon durch die Szene selbst vorgegeben und kommt nicht erst und damit keineswegs vordergründig als Mittel der Inszenierung zum Tragen.

Die Szene des Films ist nämlich eine Szene auf dem Theater bzw. ein Vorsprechen als Probe für eine geplante Bühneninszenierung – und hier nähern wir uns dem eigentlichen Clou, an dem Prinzler mit seiner formal-ästhetischen Fokussierung auf das Licht knapp vorbeischlittert. Freilich erleben wir als Zuschauer einen kunstvoll arrangierten Lichteinsatz, aber dieser begegnet uns hier als Teil einer inszenierten Inszenierungsarbeit und beleuchtet somit insbesondere die Spiel-im-Spiel-Anlage, von der der Film ganz eminent geprägt ist. Übrigens handelt es sich bei Polanskis Adaption nicht um die Verfilmung des Romans von Sacher-Masoch, sondern um die Aufarbeitung eines Broadway-Stückes von David Ives, welches die Romanvorlage auf bestechende Weise neu interpretiert. Bei der Bühnenfassung tritt die mise en abyme (der Charakter von Spiel im Spiel) vermutlich erst recht unmittelbar vor Augen, da man es dabei nicht mit einem Wechsel des Mediums (Theater – Film) zu tun bekommt. Der Bühnencharakter bleibt allerdings auch in der Verfilmung gewahrt, denn es handelt sich hier um ein filmisches Kammerspiel, und die obendrein zeitdeckende Inszenierung ohne Zeitsprünge oder Szenenwechsel trägt dazu bei, dass sich im Spiel zwischen den beiden Figuren eine besondere Intensität entfalten kann.

Das doppelt fiktive Spiel im Spiel unterstreicht dabei gekonnt diejenige Form von Spiel in der realen sozialen Interaktion, um die es thematisch in der Hauptsache geht: den Flirt und seinen manipulativen Charakter als Mittel der Verführung sowie das (mehr oder weniger) spielerische Kräftemessen zwischen den Geschlechtern. Es ist eine helle Freude, Emmanuelle Seigner und Mathieu Amalric dabei zuzusehen, wie sie diesen Machtkampf als Spiel auf mehreren Ebenen austragen und quasi als Drama von der sexuellen Hörigkeit aufführen, bei dem sich eine erotische Spannung aufbaut, die noch auf der Leinwand mit Händen zu greifen ist. Da die Vanda von Polanskis Ehefrau gespielt wird und Amalric nicht nur optisch an eine jüngere Ausgabe des Regisseurs selbst erinnert (so wiederum Prinzler), kommt übrigens augenzwinkernd noch der autobiografische Bezug als weitere Ebene hinzu.

Die Figur der Vanda hat etwas Undurchschaubares, das neben ihren herausragenden schauspielerischen Fähigkeiten (die letztlich Seigner als ihre Interpretin auszeichnen) dazu beiträgt, dass sie den Regisseur Thomas vom Fleck weg in ihren Bann zieht. Zwar stellt sie Thomas wiederholt wegen des ihrer Ansicht nach sexistischen Charakters seines Stückes zur Rede, das sie besser zu kennen scheint als der Autor selbst, und zwischendurch gibt sie sich als Detektivin aus, die von Thomas’ Verlobter als Treuetesterin angeheuert worden sei, aber dabei scheint es sich um eine haltlose Behauptung zu handeln. Kaum scheint Thomas die Schauspielerin auch nur an einem Zipfel zu fassen zu bekommen, entzieht sie sich ihm auch schon wieder, indem sie nahtlos in die Rolle der Bühnen-Wanda wechselt. Ihre eigentlichen Motive bleiben im Dunklen, was dem Film etwas Mysteriöses verleiht. Trotz – oder gerade wegen – ihrer Ungreifbarkeit wickelt sie den Regisseur um den Finger und zwingt ihn regelrecht in die Rolle des Severin seines Stückes, die er nur zu wollüstig annimmt.

In diesem Fall hat also letztlich mal wieder die Frau die Hosen an und dies nicht zum Schaden des Mannes, weil der Schaden jedenfalls jederzeit von Lust aufgewogen wird, wenn nicht sogar übertroffen. „Aber der Herr, der allmächtige Gott, hat ihn gestraft, und hat ihn in eines Weibes Hände gegeben“ – so lautet prominent das Doppel-Motto von Stück und Film. Der Begriff der femme fatale, die Vanda zweifellos verkörpert, wird so als Tautologie abgestempelt, aber ein solches fatum ist einem Thomas/Severin masochistisch willkommen.So schlimm kann die Strafe nicht sein, wenn sie als so süße Pein daherkommt. Wer sich als heterosexueller männlicher Zuschauer angesichts der Versuchung durch Vanda nicht selbst am Ende gefangen in den Fesseln der Begierde sähe wie Thomas, werfe den ersten Stein.