Hit the road, Jack

Auf Geheiß meines Arbeitgebers fahre ich zum ersten Mal auf die Frankfurter Buchmesse und buche dazu ebenfalls zum ersten Mal eine Unterkunft über Airbnb. Weil bei uns in der Firma solche Planungen immer recht kurzfristig ablaufen, d.h. im Grunde ohne viel Planung, rechne ich mir keine Chancen aus, noch ein einigermaßen bezahlbares Hotelzimmer zu finden – falls das zur Buchmesse in Frankfurt überhaupt je möglich sein sollte -, und weiche daher gern auf das Online-Angebot von privaten Vermietern aus. Wie ich später von einem Einheimischen erfahren sollte, den ich beim Essen in einem eritreischen Restaurant kennenlerne, war das vermutlich auch ganz vernünftig: Seiner Einschätzung nach seien noch die schäbigsten Absteigen während der Buchmesse zu überteuerten Preisen ausgebucht. Dem weiche ich also aus und mache mich auf den Weg nach Frankfurt-Zeilsheim.

Gleich nach der Ankunft am Bahnhof begegnet mir die dem Großstädter entfremdete Dunkelheit der Provinz (es ist nach Acht an einem Oktoberabend). Ich atme die entsprechende Landluft und auf: Genau der gewünschte Gegenpol zum zu erwartenden Messetrubel, durch den die Geschäftsreise einen gehörigen Anflug von Urlaub bekommt, und ein willkommener Ausgleich zum Alltag im Moloch der Metropole, aus dem ich angereist bin. Ich laufe eine gute Viertelstunde durch den herbstlichen Vorstadtfeierabend und genieße die Frische der Atemluft, nur wenige Menschen sind auf der Straße, einige Herren in einer Trinkhalle, ein paar Autos. Bei der Ankunft an meiner Unterkunft eine kleine Überraschung: Den in der Annonce ausgewiesenen Gastgeber, mit dem ich auch meine Anreise telegrafisch verabredet habe, treffe ich gar nicht an, stattdessen öffnet mir sein Bruder (?) und ruft die Mutter herbei, die eigentliche Gastgeberin. Die Herberge ist also familiärer als gedacht, was ich als durchaus angenehm empfinde. Die Dame begrüßt mich sehr freundlich und führt mich nach oben, um mir die Räumlichkeiten zu zeigen, eine gemütlich rustikale Dachgeschosswohnung im Mehrgenerationenhaus, der Sohn lässt mich wissen, dass es sich um sein ehemaliges Kinderzimmer handelt. Man lädt mich noch ein, die bereitstehende Kaffeepadmaschine oder den Wasserkocher zu benutzen, und zeigt mir die Dusche im Keller, danach bleibe ich allein. Ich lege kurz ab und verlasse gleich wieder das Haus, um nach der fünfstündigen Anreise noch die Bedürfnisse des Magens zu befriedigen aber auch die anhaltende Neugier auf die Umgebung. Der Magen ist zuerst dran (erst kommt das Fressen …): Es gibt leckere Pizza beim nahegelegenen Italiener, einem netten Lokal im vermutlich mit Modernisierungsabsicht verkitschten Landhausstil, danach noch ein Verdauungsspaziergang zur Jahrhunderthalle. Dabei wieder das Erstaunen über die Tiefe der Nacht auf dem Land, wendet man sich von der Straße ab. Jedenfalls zur einen Seite hin, auf der anderen glimmt und raucht ein Industriepark. Und gegenüber, hinter Maschendraht, im Zwielicht schwachen Laternenschimmers ein verwildertes Spielplatzmodul – wie die Kulisse von einem Horrorfilm. Die Jahrhunderthalle bleibt hinter den Erwartungen zurück (gemessen an Jahrhunderhalle und Westpark in Bochum): ein bisschen ein beliebiges Planetarium, eher als ein Jahrhundertbauwerk, wobei die Kuppel dann doch eine Überraschung war. Anschließend geht es zurück und bald ins Gästebett.

Vom Messerummel will ich gar nicht erst anfangen, weil es genau so ist, wie man es sich vorstellt: Man läuft zu viel, isst zu wenig, und es ist erstaunlich, wie schnell zwei Tage verfliegen können. Sehr schön dann aber der kulinarische Absacker am zweiten Abend. Eigentlich wollte ich der regionalen Küche frönen und Schnitzel mit Grüner Soße essen, in einem Lokal, das ich von meinem einzigen früheren Frankfurtbesuch noch in bester Erinnerung habe. Ich finde auch erstaunlich schnell von der Konstabler Wache dorthin, nur um dann festzustellen, dass es bis zum letzten Platz an der Bar besetzt bzw. reserviert ist, worauf ich mich an einem Messetag auch schon ein bisschen eingestellt habe. Ich ziehe dann weiter, um auf gut‘ Glück noch einen zweiten Versuch zu machen oder im schlimmsten Fall mit einer Dönerbude vorliebzunehmen. Zu diesem Äußersten kommt es jedoch nicht, denn gleich um die Ecke fällt mir ein ansprechendes afrikanisches Restaurant ins Auge, wo man mir noch einen Platz anbieten kann – an der Bar. Die Karte ist vielversprechend und ich habe Mühe, mich zu entscheiden. Als das Essen dann nach kurzer Zeit kommt, unterläuft mir ein faux pas: Ich habe kein Besteck erhalten und frage danach. Man bringt zwar eins, doch der junge Herr neben mir, ein Verwandter der eritreischen Wirtsfamilie, wie sich später herausstellt, hakt sofort ein: Haben Sie noch nie hier gegessen? Ich muss das zugeben und lasse mich dann auch gerne belehren, dass die Speisen nach Landessitte in Eritrea mit der bloßen Hand gegessen werden. Bzw. nicht ganz mit der bloßen Hand: Zu der gulaschähnlichen Fleischsoße werden Sauerteigfladen gereicht, die von so schwammiger Konsistenz sind, dass sich davon leicht kleine Läppchen abreißen lassen, mit denen die Fleischstücke zu greifen sind und die Tunke aufgewischt werden kann. Selbstverständlich lasse ich das bestellte Besteck nach dieser freundlichen Einweisung unangetastet liegen und genieße den Ausbruch aus der abendländischen Zivilisation mit kindlicher Freude. Dabei kommt mir in den Sinn, dass an dieser Kulturpraxis sicher auch Nietzsche Gefallen gefunden hätte. Wir Okzidentaleuropäer sind doch in jeglicher Hinsicht denaturiert und haben den Bezug zu allem Vital-Irdischen sterilisiert, also: Dionysos gegen den Gekreuzigten!, auch beim Essen. Weil meine Beschreibung womöglich dem durchschnittlichen europäischen Gaumen ebenfalls nicht unmittelbar geschmeichelt haben mag, sei noch ausdrücklich gesagt, dass das Essen vorzüglich war, angenehm pikant und äußerst sättigend mit all dem Teig. Mit dem Herrn, der mich freundlicherweise in die eritreische Esskultur eingeführt hat, komme ich noch ins Gespräch – wir quatschen über die Eigenheiten von Frankfurt und Berlin, steigende Mietpreise etc., und er erzählt viel von seinem Onkel, der Botschafter ist, und von den strapaziösen Anforderungen an diesen Berufsstand -, und so verbringe ich einen kurzweiligen Abend in Frankfurt.

Sicher war die Messe auch eindrucksvoll und hielt inspirierende Momente bereit, und ich habe es genossen, mich dort als Teil in der Menge produzieren zu können, aber auf der anderen Seite ist das doch alles auch irgendwie business as usual, insofern als jeder Beteiligte in seiner zugewiesenen Rolle funktionieren muss oder möchte. Deshalb war die Begegnung in dem Lokal in der Alten Gasse, die es mir unverhofft ermöglicht hat, buchstäblich ein wenig über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und eine fremde Kultur ein bisschen zu begreifen, dann doch der tiefste und nachhaltigste Eindruck meiner Reise und gewissermaßen Urlaub von Europa mitten in Frankfurt.

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