L’on y danse, l’on y danse
Ist der Castorf aus dem Haus, tanzt die Meute auf dem Tempelhofer Feld
Am gestrigen Sonntag startete die Volksbühne Berlin in die neue Saison, und zur Eröffnung wurde auf dem Flugvorfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof ein Tanzfestival veranstaltet, unter dem Titel „Fous de danse – Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof“. Aufgrund der politisch erzwungenen Ablösung des Kultintendanten Frank Castorf, der das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz 25 Jahre lang geführt hatte, durch den theaterfremden Chris Dercon und dessen Neuausrichtung des Programms, die von Kritikern als Verrat an der Identität der Volksbühne aufgefasst wird, war zuletzt eine Welle der Empörung durch das Stammpublikum und die Berliner Kulturszene insgesamt gegangen (ich hatte das Thema in einem früheren Artikel bereits angerissen), sodass nun auch diese Eröffnungsveranstaltung noch unter besonders kritischer Beobachtung steht.
Ganz Berlin ist dann doch nicht gekommen, aber eine Menge von gut tausend Besuchern war zwischen 14 und 18 Uhr zur Spitze bestimmt anwesend (Fluktuation durch stetiges Kommen und Gehen nicht mitgerechnet) – und darunter wohl auch der ein oder andere Kritiker, denn einen „Das ist nicht die Volksbühne!“-Ruf konnte ich zumindest aufschnappen. Nichtsdestotrotz war die Stimmung insgesamt fröhlich (sicherlich begünstigt durch das in diesem Jahr ja nicht selbstverständliche spätsommerlich-freundliche Wetter), und das Publikum folgte aufgeschlossen und neugierig, bisweilen schmunzelnd den unterschiedlichen Darbietungen. Mittendrin übrigens auch der neue Chef selbst, volksnah in Cargohose und bereitwillig für Fotos posierend sowie für jedermann ansprechbar.
Volksnah bis volkstümlich dann auch das Programm, durchaus aber mit Ausflügen in die Gefilde avancierterer Hochkultur: Der Bogen reicht vom puristischen Minimalismus einer Lucinda Childs über den türkischen Volkstanz Zeybek bis hin zu HipHop und Breakdance. Bei dem folkloristischen Formationstanz hätte ich persönlich mir vielleicht schon ein bisschen mehr ästhetische Strenge gewünscht (in Form von Trachten oder ähnlich uniformierter Kostümierung), andererseits trägt die legere Straßenkleidung, in der die Tänzer den Zeybek aufführen, natürlich zu dem insgesamt zwanglosen Charakter einer Veranstaltung für alle bei. Dieser Aspekt steht insbesondere auch beim „Giant Soul Train“ im Mittelpunkt – für mich persönlich der Höhepunkt des Programms: Vor einer Bühne wird ein Korridor von ca. drei Meter Breite markiert, auf dem sich nun für die Dauer einer Stunde jeder, der sich berufen fühlt (und es fühlt sich eine ganze Menge wieder und wieder berufen), zu den Klängen von DJ Freshhh selber tänzerisch produzieren kann. Ein funky Schaulaufen und -tanzen vor einem Publikum, das am Rand des abgesteckten „Laufstegs“ mitgroovt, bei dem eine solche Energie entsteht, dass der Funke nach meinem Eindruck auf die gesamte Menge überspringt und selbst Besucher im Rentenalter noch gehörig die Hüften schwingen.
Mindestens hier wurde also im emphatischen Sinne dem Volk eine Bühne geboten, und der von Dercon in einem Interview formulierte Anspruch, man wolle mit dem Eröffnungsfest „Gemeinschaft zelebrieren“, kann wohl eindeutig als Erfolg verbucht werden. Ansonsten bin übrigens auch ich jemand, der die Volksbühne entschieden mochte, wie sie unter Castorf war, und der dem neuen Programm entsprechend noch etwas abwartend gegenübersteht. Abwarten ist aber etwas anderes als der neuen Führung von vornherein mit Feindschaft zu begegnen. Für eine Haltung, die das Neue rundheraus ablehnt, weil es nicht das Alte ist, gibt es jedenfalls einen Ausdruck, und der sollte besonders dem Volksbühnenpublikum dem eigenen Verständnis nach eigentlich nicht gut zu Gesichte stehen: konservativ. Chris Dercon mag also sicherlich gewissermaßen „auf Bewährung“ sein, aber die sollte doch wohl mindestens erst mal eine Spielzeit lang währen, ohne dass gleich eine Vorverurteilung stattfindet. Castorf-Fans müssen jetzt ja nur einfach zum BE wechseln, und nächsten Sommer wissen wir dann alle mehr.