L’on y danse, l’on y danse

Ist der Castorf aus dem Haus, tanzt die Meute auf dem Tempelhofer Feld

Am gestrigen Sonntag startete die Volksbühne Berlin in die neue Saison, und zur Eröffnung wurde auf dem Flugvorfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof ein Tanzfestival veranstaltet, unter dem Titel „Fous de danse – Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof“. Aufgrund der politisch erzwungenen Ablösung des Kultintendanten Frank Castorf, der das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz 25 Jahre lang geführt hatte, durch den theaterfremden Chris Dercon und dessen Neuausrichtung des Programms, die von Kritikern als Verrat an der Identität der Volksbühne aufgefasst wird, war zuletzt eine Welle der Empörung durch das Stammpublikum und die Berliner Kulturszene insgesamt gegangen (ich hatte das Thema in einem früheren Artikel bereits angerissen), sodass nun auch diese Eröffnungsveranstaltung noch unter besonders kritischer Beobachtung steht.

Ganz Berlin ist dann doch nicht gekommen, aber eine Menge von gut tausend Besuchern war zwischen 14 und 18 Uhr zur Spitze bestimmt anwesend (Fluktuation durch stetiges Kommen und Gehen nicht mitgerechnet) – und darunter wohl auch der ein oder andere Kritiker, denn einen „Das ist nicht die Volksbühne!“-Ruf konnte ich zumindest aufschnappen. Nichtsdestotrotz war die Stimmung insgesamt fröhlich (sicherlich begünstigt durch das in diesem Jahr ja nicht selbstverständliche spätsommerlich-freundliche Wetter), und das Publikum folgte aufgeschlossen und neugierig, bisweilen schmunzelnd den unterschiedlichen Darbietungen. Mittendrin übrigens auch der neue Chef selbst, volksnah in Cargohose und bereitwillig für Fotos posierend sowie für jedermann ansprechbar.

Volksnah bis volkstümlich dann auch das Programm, durchaus aber mit Ausflügen in die Gefilde avancierterer Hochkultur: Der Bogen reicht vom puristischen Minimalismus einer Lucinda Childs über den türkischen Volkstanz Zeybek bis hin zu HipHop und Breakdance. Bei dem folkloristischen Formationstanz hätte ich persönlich mir vielleicht schon ein bisschen mehr ästhetische Strenge gewünscht (in Form von Trachten oder ähnlich uniformierter Kostümierung), andererseits trägt die legere Straßenkleidung, in der die Tänzer den Zeybek aufführen, natürlich zu dem insgesamt zwanglosen Charakter einer Veranstaltung für alle bei. Dieser Aspekt steht insbesondere auch beim „Giant Soul Train“ im Mittelpunkt – für mich persönlich der Höhepunkt des Programms: Vor einer Bühne wird ein Korridor von ca. drei Meter Breite markiert, auf dem sich nun für die Dauer einer Stunde jeder, der sich berufen fühlt (und es fühlt sich eine ganze Menge wieder und wieder berufen), zu den Klängen von DJ Freshhh selber tänzerisch produzieren kann. Ein funky Schaulaufen und -tanzen vor einem Publikum, das am Rand des abgesteckten „Laufstegs“ mitgroovt, bei dem eine solche Energie entsteht, dass der Funke nach meinem Eindruck auf die gesamte Menge überspringt und selbst Besucher im Rentenalter noch gehörig die Hüften schwingen.

Mindestens hier wurde also im emphatischen Sinne dem Volk eine Bühne geboten, und der von Dercon in einem Interview formulierte Anspruch, man wolle mit dem Eröffnungsfest „Gemeinschaft zelebrieren“, kann wohl eindeutig als Erfolg verbucht werden. Ansonsten bin übrigens auch ich jemand, der die Volksbühne entschieden mochte, wie sie unter Castorf war, und der dem neuen Programm entsprechend noch etwas abwartend gegenübersteht. Abwarten ist aber etwas anderes als der neuen Führung von vornherein mit Feindschaft zu begegnen. Für eine Haltung, die das Neue rundheraus ablehnt, weil es nicht das Alte ist, gibt es jedenfalls einen Ausdruck, und der sollte besonders dem Volksbühnenpublikum dem eigenen Verständnis nach eigentlich nicht gut zu Gesichte stehen: konservativ. Chris Dercon mag also sicherlich gewissermaßen „auf Bewährung“ sein, aber die sollte doch wohl mindestens erst mal eine Spielzeit lang währen, ohne dass gleich eine Vorverurteilung stattfindet. Castorf-Fans müssen jetzt ja nur einfach zum BE wechseln, und nächsten Sommer wissen wir dann alle mehr.

Alles irgendwie ein bisschen toll

… aber: Keiner findet sich schön von René Pollesch

Und wieder eines dieser Stücke, die dem zeitgeistaffinen Großstädter den Spiegel vorhalten. So haben wir Pollesch ansatzweise bereits kennengelernt, und da gibt er sich insbesondere auch mit Falk Richter und Sibylle Berg die Klinke in die Hand. Wieder einmal wird dem einsam durch die urbane Anonymität strauchelnden Individuum da auf den Zahn gefühlt, wo es wehtut: bei der dauernd neu enttäuschten, weil vermutlich von vornherein zu hochtrabenden Suche nach dem absoluten Glück – vor allem in Form von Liebeserfüllung. Da hat man es ja aber heutzutage auch wirklich nicht mehr leicht, in einem gefühlten Meer von Möglichkeiten und haltsuchend schwankend zwischen Schicksal und Algorithmen – denn natürlich sind „alle bei Tinder“ (und/oder Gleichklang.de, Parship.eu, OkCupid, Grindr), und also auch der Pollesch’sche Rezitator (in einer weitgehend reduzierten Inszenierung eine vielleicht besser treffende Bezeichnung als „Schauspieler“). Und von jeder Entscheidung – und drehe sie sich auch nur um die denkbar banalsten Dinge, wie ob man auf ein Iggy-Pop-Konzert geht oder zuhause bleibt, um „Robocop“ zu gucken, oder ob man Raucher ist oder Nichtraucher – kann letztlich ein ganzer Lebenslauf abhängen, sodass sich in der Kombination unterschiedlicher Weichenstellungen eine schier unüberschaubare Vielzahl alternativer Ausgänge ergibt, und selbstverständlich kann – rückwirkend teleologisch betrachtet – nur einer davon das erhoffte Glück parat halten. Chaostheorie lässt grüßen bzw. andererseits die immer noch bestürzende Erfahrung von totaler Kontingenz allen Daseins.

Wie also mit so einer Situation umgehen? Pollesch ist freilich einmal mehr weit eher Diagnostiker als Therapeut und hat selbst keine Lösungen anzubieten. Im Extremfall bleibt dann halt nur der Sprung vom Balkon; sicherlich die radikalste Entscheidung, die man fällen kann, aber für eine zynisch-objektive Analyse des großstädtischen Geisteslebens natürlich eine der möglichen Optionen. Von dem schon lange weitgehend marginalisierten „Opium fürs Volk“ ist ja leider kein Heilsversprechen mehr bindend – wenngleich wie auch in „Service/No service“ wieder eine Anspielung auf die Sphäre der Religion als Perspektive zumindest anklingt (aber der Schauspieler würgt die eingespielte Bibelrezitation durch Ben Becker gleich ab und zieht sie ins Lächerliche). Nur momentweise wird so etwas wie ein Zipfel von einem Lösungsansatz angerissen, wenn der Schauspieler in seinem Monolog eine Kritik an der Praxis des Onlinedatings formuliert: „Aber die riechen sich ja nicht!“ (man merke auf: Durch die Pronominalisierung als „die“ nimmt sich der Sprecher an dieser Stelle selbst aus und eine tendenziell exponierte Kommentatorenposition ein, während er ansonsten ja von eigenen Aktivitäten bei Tinder und Co. berichtet). Mit dem Rekurs auf den Geruchssinn wird implizit die hormonelle, ausdrücklich biologische Komponente bei der Partnerwahl starkgemacht, und der so aufgezeigte Ausweg wäre dann letztlich wie schon bei Rousseau: Zurück zur Natur! Oder nach Schweinfurt – denn nur weil man noch niemals in New York war, muss man doch nicht zwangsläufig andere Orte vernachlässigen.

In seiner Inszenierung bleibt das Stück technisch über weite Strecken recht minimalistisch: Einzig Fabian Hinrichs auf der Bühne, der in neutraler Kleidung über einer ostentativ künstlichen Wampe, die den stetig voranschreitenden Wertverlust des Körpers illustriert, welcher ja in dem entworfenen Szenario vom Single als Kapital auf den Jahrmarkt der Eitelkeit getragen werden muss, monologisch von der Kanzel herab – oder vielmehr von der Therapeutencouch – zum Publikum spricht. Auf die (Partnerschafts-)Börsensituation spielt auch das Bühnenbild an, indem der Boden mit seinen rot-weißen Stripes, die später durch die Kostüme einer Gruppe von Tänzern um die zugehörigen Stars vervollständigt werden, symbolisch auf das Musterland des Kapitalismus verweist. Gleichzeitig führt das Markenlogo Кока Кола im Zuschauerraum auf Kyrillisch vor Augen, dass sich die kapitalistische Marktlogik mittlerweile auch auf Bereiche erstreckt, denen man vor einiger Zeit insbesondere vom Rosa-Luxemburg-Platz aus noch etwas ganz anderes zugetraut hat. Für ein großes Finale wird aber schließlich doch noch einiger inszenatorischer Bombast mit Musik und Tanz aufgefahren, inmitten dessen auch eine Art Gefährte für die auf der Bühne geplagte Seele aufersteht.

Der Abend klingt dann aus mit einer Parodie von Frank Sinatra: „I did it your way.“ Vor dem bereits zugezogenen Vorhang kann das Publikum, mit sich allein gelassen, nur sich selbst damit angesprochen fühlen. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Wollen wir wirklich diesen Wahnsinn, wollen wir teilhaben an dem ständigen Wettbewerb um die am besten genutzte Zeit, am Ringen um die optimale Entscheidung zu jedem Zeitpunkt? Jedem einzelnen steht es doch jedenfalls frei, sich auf seine eigenen Bedürfnisse (My Way) zu besinnen und sich weniger nach der Mainstream-Kultur auszurichten, wie sie hier im Schauspiel karikiert wird.

Als der Vorhang sich wieder öffnet, bricht lang anhaltender Applaus los. So hässlich findet man sich wohl doch nicht. Zum Glück hat mich meine eigene Entscheidung an diesem Tag die Volksbühne dem heimischen Sofa vorziehen lassen, denn sonst wäre mir ein Stück popkultureller Zeitdiagnostik entgangen, das humoristisch daherkommt, ohne auf Tiefgang zu verzichten. Bester Pollesch also, wie er in dieser Saison nun wirklich nicht mehr lange in Berlin am Stammhaus erlebt werden kann.

Im Kopf das Ungeheuerlichste

Thomas Bernhards Das Kalkwerk an der Schaubühne

Theaterabende, die ein einziger Schauspieler alleine bestreitet, können, sofern sie gelingen, eine besonders intensive Erfahrung sein. Ich habe in einem Exkurs an anderer Stelle schon einmal einen solchen Eindruck angedeutet. Die außergewöhnliche Intensität wird damit zu tun haben, dass die Aufmerksamkeit des Zuschauers bei einer monologischen Inszenierung permanent auf dieselbe Stelle gerichtet und damit von vornherein zwangsläufig gefesselt ist, während der Blick bei szenischer Darstellung in Dialogen freier über die Bühne schweift und zwischen diversen Apperzeptionsangeboten hin- und herspringt. Der Monolog – v.a. wenn er auch körpersprachlich an das Publikum gerichtet ist wie im vorliegenden Fall – entwickelt eine (scheinbare) Zwiesprache zwischen Schauspieler und Publikum, bei der sich eine größere Anspannung aufbaut als beim Dialog, weil der Zuschauer hier nicht zurückgelehnt eine Szene beobachten und beiläufig ein Gespräch mitverfolgen kann sondern unmittelbar in das Gespräch verwickelt und so zu einem gewissen Teil selbst in die Szene gezogen wird.

Diese Anspannung lastet natürlich noch umso stärker auf dem Darsteller, denn der hat nicht nur ein enormes Textvolumen zu bewältigen, sondern weiß sich obendrein noch für die Dauer der Aufführung im Brennpunkt des gebündelten Zuschauerinteresses, ohne auch nur einen Augenblick lang Auszeit nehmen zu können. Eine solche Belastung muss ein Schauspieler erst einmal aushalten, aber in dieser Hinsicht gibt sich Felix Römer als Konrad (und zwischenzeitig per Cross-Dressing ebenfalls: Frau Konrad) keinerlei Blöße – zumindest nicht im übertragenen Sinne, denn buchstäblich bleibt dieselbe beim auf offener Bühne vollzogenen Kostümwechsel dann doch nicht immer ganz aus. Auch die besondere Herausforderung, die in der psychischen Konstitution der Bernhard’schen Figur angelegt ist, meistert Römer mit Bravour: „Wahn, Paranoia, Psychose, Manie, Zwänge, Verfolgungsängste und Verdrängungswünsche“ können Konrad nachgesagt werden (so im Kommentar des von Renate Langer im Rahmen der bei Suhrkamp erschienenen Werkausgabe herausgegebenen Bandes „Das Kalkwerk“ von 2004) und somit eine ganze Palette psychischer Störungen, die der Schauspieler in seiner Performance absolut adäquat und virtuos durchdekliniert. So steigert sich Römer bei Konrads Bericht über sein frustrierend unfruchtbares Bemühen, seine als großer Wurf konzipierte Studie über das Gehör u.a. mit der „urbantschitschen Methode“ voranzutreiben, bei der er seine ihm im Rollstuhl hilflos ausgelieferte Frau über Stunden mit identisch wiederholten Lauten, Wörtern oder Sätzen malträtiert („Mit dem Wort Rinnsal experimentiere er an die zehn Jahre, soll er zu Wieser gesagt haben“), in eine so außerordentliche Exaltation, dass man sich als Zuschauer einem leibhaftigen Irren gegenüber wähnt. „Kalkutta!“ schreit er etwa unvermittelt, um dem Publikum ein Beispielwort aus seinen Experimenten zu präsentieren, und man bekommt sofort einen Eindruck davon, wie diese Art von „Studien“ seiner Frau über kurz oder lang zusetzen muss.

Konrad steht aber auch unter einem gewaltigen, freilich seinem eigenen Anspruch geschuldeten Druck: Seinen Berichten zufolge trägt er sich seit Jahrzehnten mit der fixen Idee, die erste bedeutsame Studie über das Gehör zu schreiben, und hat die Arbeit nach eigenen Angaben auch schon vollständig im Kopf (er kann z.B. die geplante Gliederung in neun Kapitel beschreiben), nur ist es ihm partout nicht möglich, diese auch niederzuschreiben, was natürlich die Voraussetzung zur Veröffentlichung und damit eigentlichen Realisierung derselben wäre. Jedesmal wenn er sich daran macht, endlich mit der Niederschrift zu beginnen, kommt ihm irgendetwas dazwischen, weil er sich z.B. von Umwelteinflüssen oder Besuchern im Kalkwerk ablenken lässt oder in irgendwelchen Zwangsvorstellungen verstrickt und dadurch wieder nicht zum Schreiben kommt. Die Obsession geht sogar so weit, dass er mit seiner Frau quer durch Europa wieder und wieder umzieht, um sich jedesmal vermeintlich bessere Bedingungen für die Arbeit an der Studie zu schaffen, und im Kalkwerk scheinen schließlich die idealen Bedingungen gefunden zu sein, aber auch das stellt sich letztlich wieder als Trugschluss heraus. Die Beziehung zwischen Mann und Frau muss unter solchen Voraussetzungen zwangsläufig leiden, was schließlich auch in einer Katastrophe mündet, aber vorderhand zahlt Frau Konrad ihrem Gatten sein sadistisches Verhalten zumindest teilweise in selber Münze zurück. Sei es aus stupider Rache oder einfach weil sie von den Eskapaden ihres Mannes mürbe gemacht ist: Unentwegt strickt sie ihm dieselben Fäustlinge, die sie kurz vor Fertigstellung jedesmal wieder auftrennt, und spiegelt so ihrerseits Konrad und seine unabschließbare Studie.

Indem Felix Römer in der Inszenierung von Philipp Preuss nun beide Eheleute in Personalunion verkörpert, fügt er dem Panoptikum an psychischen Absonderlichkeiten quasi folgerichtig noch Schizophrenie hinzu (der Gipfel des Wahnsinns ist eine Szene, in der Konrad von den Pudergewohnheiten seiner Frau spricht und sich dazu auf der Bühne einer Panade unterzieht, indem er sich umständlich durch Mehl, Eigelb und Semmelbrösel wälzt) und erntet am Ende auch einigen ordentlich erarbeiteten Applaus für seinen psychosomatischen Parforceritt. Der kann auch deshalb so gut zur Geltung kommen, weil er auf dem Präsentierteller einer als glitzerndem White Cube mit einfachem Stuhl weitgehend neutralen Bühne dargeboten wird, was die schauspielerische Leistung noch ein Stück weiter in den Fokus rückt. Die weiße Rückwand wird zwischenzeitig als Projektionsfläche für Nahaufnahmen von Römers Mienenspiel genutzt, wobei sich ein Hauch von Shining abzeichnet. Kassettenrekorder und Mikrofone, die als weitere technische Medien zum Einsatz kommen, führen mit einigen schrillen Frequenzen den peinigenden Aspekt von Konrads Experimentierwahn ausdrücklich vor Ohren, können der Iszenierung aber ansonsten kaum etwas hinzufügen außer einer angesichts des Sujets naheliegenden akustischen Spielerei. Nichtsdestotrotz ein amüsanter und auch in der dritten Spielzeit noch bestens besuchter Abend, der nicht nur Bernhard-Fans zufriedenstellen dürfte.

Kino transzendental

Schatten (Eurydike sagt) in der Inszenierung von Katie Mitchell an der Schaubühne

Es ist leicht vorstellbar, wie die Kritik einer theaterpuristischen Haltung an der Regiearbeit von Katie Mitchell ausfallen könnte: Hier biedert sich das Theater ja wohl auf unziemliche Weise dem Kino an, indem es dem Publikum letztlich in der Hauptsache einen Film präsentiert, und gibt so mindestens einen Teil seines spezifischen Charakters preis. Einer solchen Kritik würde aber entgehen, dass dabei immerhin ein Publikum neu für das Theater gewonnen werden könnte, das ansonsten eher dem Kinosessel zuneigt, und der Vorwurf der Aufgabe des eigentlichen Wesens von Theater ginge darüber hinaus völlig fehl. Vielmehr schafft Katie Mitchell es nämlich, die besonderen Bedingungen des Theater progressiv zu nutzen und einmal auf ganz eigene Weise vor Augen zu führen: Zwar wird die Bühne von einer Leinwand überspannt, auf die ein Film projiziert wird, aber dort wird der Blick des Zuschauers immer nur vorübergehend ruhen, denn auf der Bühne lässt sich gleichzeitig mitverfolgen, wie dieser Film im selben Augenblick entsteht, und das macht den besonderen Charakter dieser Inszenierungspraxis aus, der wiederum durch die Theatersituation überhaupt erst ermöglicht wird. Was man hier erleben kann ist eine Art von Kino, die Hand in Hand mit der eigenen Metaebene daherkommt: die Schnittfassung eines Films und gleichzeitig sein Making of – oder (in Anlehnung an das Konzept der romantischen Ironie sowie die angrenzende Terminologie) eben Kino transzendental.

Und das ist wirklich spannend zu beobachten, denn die Begrenztheit des Bühnenraums und die Live-Situation erfordern natürlich eine akkurat getaktete Choreographie von Schauspielern und Kamerateam, bei der auch schon mal der Orpheus-Darsteller Renato Schuch Handreichungen hinter der Kamera machen muss, während die von ihm verkörperte Figur sich gerade im Off der Leinwandaufmerksamkeit befindet. Und überhaupt geht es dabei natürlich turbulent drunter und drüber, wenn z.B. für einen Szenenwechsel das Bühnenbild links umgebaut werden muss, während die Kamera gerade vorübergehend auf die Szene rechts gerichtet ist, damit dann nahtlos auf die neue Einstellung links geschnitten werden kann. Man erahnt, welches Ausmaß an Probenarbeit hier nötig gewesen sein muss, denn Schnittfehler oder bloß Mängel würden dem hollywood-verhätschelten Auge ja sofort auffallen, das durch die avancierte Bildsprache des produzierten Films ansonsten in jedem Fall angesprochen wird. Das Team erweist sich hierbei jedoch als bestens eingespielt und holt sich dafür nach dem Vorhang auch verdientermaßen gleichberechtigt mit den Schauspielern den hochverdienten Applaus ab.

Die Darstellung der Eurydike – auch das gehört zur besonderen Handschrift von Katie Mitchell – geschieht übrigens in Arbeitsteilung: Während Jule Böwe den mimischen Part in der eigentlichen Szene übernimmt, leistet Stephanie Eidt beinah den gesamten verbalen Ausdruck allein in einer Sprecherkabine am Rand der Bühne. Dieses Verfahren ermöglicht es, das Geschehen auf der Leinwand live vom inneren Monolog der Hauptfigur begleiten zu lassen, d.h. der Zuschauer lauscht Eurydikes Gedankenstrom als Stimme aus dem Off, während die Lippen der Mimin im Bild reglos bleiben. Gleichzeitig kommt es auch dem Text von Elfriede Jelinek entgegen, deren Stücke meiner Erfahrung nach eher im Grenzbereich der dramatischen Form siedeln und auf ihre Art somit ein tendenziell episches Theater realisieren (ohne dass hier an Brecht gedacht werden soll).

Die eigentliche Handlung von Jelineks Variation des Stoffes von Orpheus in der Unterwelt bleibt recht blass und schematisch. Orpheus begegnet hier als Rockstar (von Eurydike immer nur als „der Sänger“ bezeichnet), dessen erotische Zuwendung seine Frau angesichts seiner Popularität notgedrungen mit zahlreichen Groupies teilen muss – ob realiter oder nur in ihrer Einbildung, bleibt allerdings unklar, denn die Perspektive gelangt wie bereits angedeutet niemals über den (deshalb: epischen) Monolog ihrer Imagination hinaus. Beim Versuch von Orpheus, sie nach einem Schlangenbiss wieder aus dem Jenseits in das Reich der Lebenden zurückzuholen, gelangt sie nun zu dem Schluss, dass ihr ein Typ, der in ihr nichts weiter als ein austauschbares Objekt für seine Begierde sieht, doch eigentlich gestohlen bleiben kann. Sie sagt sich also von ihrem Mann los, sodass die endgültige Verbannung in die Unterwelt anders als in der mythischen Vorlage nicht als Unfall passiert, sondern als Akt der Ermächtigung der Frau, die sich bewusst für ein Exil entscheidet.

Das ist als feministische Umdeutung des Orpheus-Stoffes eine interessante Idee, taugt dann aber leider doch nicht ganz zur abendfüllenden Unterhaltung und verblasst als Plot meines Erachtens daher deutlich gegenüber der spektakulären Inszenierungstechnik, womit wir zu meinem einzigen Kritikpunkt gelangen: Ich hatte früher bereits eine andere Inszenierung von Katie Mitchell an der Schaubühne gesehen, bei der schon genau dasselbe Verfahren von Meta-Kino zur Anwendung gekommen ist. Dadurch war der Effekt dieser Technik für mich schon etwas abgenutzt und meine Aufmerksamkeit möglicherweise weniger durch die Form vom Inhalt abgelenkt. Was nun diesen angeht, konnte ich mich letztlich des Eindrucks nicht erwehren, dass die von mir geschätzte Elfriede Jelinek in „Schatten (Eurydike sagt)“ unterhalb ihrer sonstigen Möglichkeiten bleibt und schon mal gewitzter wortverspielte Texte produziert hat und dass die Erzählung nicht frei ist von einer gewissen Langatmigkeit. Mitchell-Neulingen sowie theaterfremden Cineasten und insbesondere Liebhabern des Film noir, die noch nicht wussten, dass sie ihrer Leidenschaft anhand dieses Stückes auch mal im Theater frönen können, kann der Besuch der Schaubühne aber unbedingt empfohlen werden, denn es erwartet sie ein atmosphärisch dichtes Spektakel.

Out of Service?

Service / No Service an der Volksbühne

Sommer heißt Theaterferien, auch auf den großen Bühnen in Berlin. An der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz steht zur neuen Spielzeit in einem Jahr zudem ein Intendantenwechsel an, und da noch nicht genau klar ist, wie es danach weitergeht, steht schon die aktuelle Pause an diesem Haus unheilsschwanger unter dem Vorzeichen einer möglichen Zäsur. Das Ensemble sieht dem Wechsel jedenfalls mit Sorge entgegen und befürchtet den Ausverkauf genau der Werte, die den besonderen Charakter der Volksbühne über Generationen hinweg ausgemacht haben, durch den theaterfremden Chris Dercon, der zur neuen Spielzeit 2017/18 die Nachfolge von Frank Castorf antreten soll. Dies wird in einem offenen Brief mitgeteilt, mit dem der Berliner Senat dazu aufgerufen wird, die Ablösung und die Programmkonzeption der neuen Leitung kritisch zu überwachen, um sich nicht am Ende beiläufig am Untergang eines einheimischen Traditionstheaters schuldig zu machen.

Pollesch jedenfalls soll schon seinen Weggang angekündigt haben – so Moritz von Uslar kürzlich in einem Artikel in der ZEIT, ebenfalls anlässlich der befürchteten Zeitenwende – und so wollte ich es mir auf keinen Fall entgehen lassen, vor der Spielzeitpause wenigstens eines seiner aktuellen Stücke noch sozusagen am „Stammhaus“ anzuschauen.* Die jüngste Produktion, auf die von Uslar in seinem Artikel ebenfalls eingegangen ist, war bereits ausverkauft, als mein Entschluss gefasst war, und so blieb mir noch die Wahl zwischen einem Einpersonenstück und einem – da einschließlich Chor – Vielpersonenstück. Meine Erstbegegnung mit Pollesch – seinerzeit als Gastspiel bei den Mülheimer Theatertagen – war „Ein Chor irrt sich gewaltig“ (2009) gewesen, und dieses Stück hatte nicht zuletzt durch den originellen Einsatz des Chors anhaltend positiven Eindruck auf mich gemacht, also entschied ich mich aufgrunddessen nun auch wieder für den Chor.

In „Service / No Service“ aktualisiert Pollesch in der formalen Anlehnung an das antike Element – der Chor war ja einst die Keimzelle für die griechische Tragödie – erneut ein Drama von höchster Gegenwärtigkeit. Das Verhältnis zwischen Individuum und Universum, zwischen Ich und Welt – was der Chor in der Opposition zum Schauspieler seit je problematisiert – findet sich, gemünzt auf die Bedingungen der Jetztzeit, auch auf der inhaltlichen Ebene repräsentiert. Mantraartig wiederholt etwa Kathrin Angerer in der Rolle einer scheiternden Schauspielerin, sie habe in letzter Zeit verstärkt das Gefühl, ihr „individuelles Schicksal [habe sich] vom Weltgeschehen abgekoppelt“. Der Chor tritt zwischenzeitig in der Rolle des Regisseurs – also eigentlich eines Individuums – auf und spielt so auf die Zerrissenheit des Ichs an, das ja seit Beginn der Moderne als zunehmend in Dissoziation begriffenes entworfen wird – eine Entwicklung, die durch das Aufkommen der stets zuhandenen digitalen Kommunikationsmedien möglicherweise nur noch eine Radikalisierung erfahren hat.

Diese tendenziell pessimistische Vision wird aber erfreulicherweise durch allerhand Komik unterwandert. Als eines der bedeutsamsten Mittel zur Erzielung von komischen Effekten stellt schon Henri Bergson in seiner Studie über das Lachen (Le rire. Essai sur la signification du comique, 1901) die Wiederholung dar: Ein Mensch, der mechanisch in der Wiederholung einer Handlung gefangen ist, erscheine zum Apparat entstellt und provoziere so Lachen. Diese Figur erscheint gewissermaßen schon im Chor als einer identischen Replikation eines Nicht-Individuums zur uniformen Menge, deren Sprechen im Gleichklang ebenfalls Züge von Mechanik trägt. Als Wiederholung bis hin zum running gag tritt sie jedenfalls grundsätzlich als Leitmotiv der Inszenierung auf. So wird in einer Szene der komische Effekt, der daraus resultiert, dass eine Figur wieder und wieder ihren Namen wiederholen muss, weil dieser von ihrem Gegenüber partout falsch wiedergegeben wird, bis zum Erbrechen ausgereizt. Und schon der Einstieg in den Abend wird von Komik der eher infantilen Art markiert, indem nämlich Maximilian Brauer in einer Live-Projektion auf die Leinwand Schokolinsen und eine Aspirintablette in einer Fantasiesprache miteinander debattieren lässt. Erwachsenere Scherze finden sich etwa in der Aufnahme der Probleme moderner Großstädter bei der Partnerwahl bzw. allein schon bei der Suche nach jemandem, „der nicht nervt“. In diesem Sujet berührt sich das Stück übrigens mit dem früher von mir besprochenen „NEVER FOREVER“. Auf die Spitze getrieben wird dieser Komplex in einer Persiflage auf den biblischen Schöpfungsbericht, wiederum vorgetragen von Kathrin Angerer, die den Abend überhaupt über weite Strecken allein trägt: „Und Gott schuf die Großraumdisko. Aber die Menschen kamen immer noch nicht zusammen – also gab er ihnen Drogen“.

Ein chaotisches Potpourri ist das am Ende, bei dem der für Pollesch nicht untypische Gestus des akademischen Dozierens bisweilen etwas ermüdet, was sich aber leicht mit den oft provozierten Lachern oder auch mit den Leibesübungen abschütteln lässt, zu denen u.a. der immer wieder in das Publikum vorstoßende Chor die Zuschauer von den nicht vorhandenen Sitzen reißt (der Saal ist unbestuhlt). Außerdem entschädigen die mitunter großartigen Bilder und grandiosen Popkulturmomente (fulminant etwa das Reenactment des legendären Musikvideos zu Fatboy Slims „Praise You“) für jede etwaige Länge zwischendurch.

Sollte Pollesch tatsächlich zur kommenden Spielzeit die Volksbühne verlassen, so wäre das definitiv als herber Verlust zu beklagen. Hoffen wir also, dass sich noch alles zum Guten wendet, indem es beim Alten bleibt, sodass wir das Motto des Chors in Service / No Service beherzigen können: „Don’t look back“. Das wäre nämlich verzichtbar, solange die Volksbühne ihren Betrieb wie gewohnt aufrechterhält und so weiter zum Blick in die Zukunft ermuntert. Castorf jedenfalls wird Berlin ohnehin als Regisseur am BE erhalten bleiben.

* Ich war irrtümlich davon ausgegangen, dass der Intendantenwechsel schon in diesem Jahr über die Bühne geht. Eine Freundin hat mich freundlicherweise über diesen Irrtum aufgeklärt, woraufhin ich den Aufhänger für diesen Artikel überarbeiten musste. Glücklicherweise befindet sich das angedeutete Drama also noch in einem Zwischenakt, und wir werden alle wenigstens noch ein weiteres Jahr lang die Gelegenheit haben, Produktionen von Pollesch an der Volksbühne anschauen zu können.

 

Zuckerbrot gleich Peitsche

Venus im Pelz von Roman Polanski

„Eine große Rolle spielt in diesem Film das Licht“, sagt Hans Helmut Prinzler in seiner Anmoderation von Roman Polanskis Venus im Pelz auf arte, aber das trifft eigentlich nur bedingt zu. Einerseits stimmt es selbstverständlich – wie es auf jeden anderen Film aber auch zutrifft -, denn bei einem Film ist Licht natürlicherweise der Informationsträger für alles Visuelle, was man sich abseits der Projektion in einem Kinosaal vielleicht zu wenig bewusst macht. In dieser Hinsicht ist die Aussage aber trivial, und so ist sie von Prinzler natürlich auch nicht gemeint. Er zielt vielmehr darauf ab, dass Polanski in seinem Film einen sehr bewussten Einsatz von Lichttechnik und -design vorführt, um eine gewisse Atmosphäre zu erzeugen bzw. Stimmungen zu transportieren. Der Anlass dafür ist aber schon durch die Szene selbst vorgegeben und kommt nicht erst und damit keineswegs vordergründig als Mittel der Inszenierung zum Tragen.

Die Szene des Films ist nämlich eine Szene auf dem Theater bzw. ein Vorsprechen als Probe für eine geplante Bühneninszenierung – und hier nähern wir uns dem eigentlichen Clou, an dem Prinzler mit seiner formal-ästhetischen Fokussierung auf das Licht knapp vorbeischlittert. Freilich erleben wir als Zuschauer einen kunstvoll arrangierten Lichteinsatz, aber dieser begegnet uns hier als Teil einer inszenierten Inszenierungsarbeit und beleuchtet somit insbesondere die Spiel-im-Spiel-Anlage, von der der Film ganz eminent geprägt ist. Übrigens handelt es sich bei Polanskis Adaption nicht um die Verfilmung des Romans von Sacher-Masoch, sondern um die Aufarbeitung eines Broadway-Stückes von David Ives, welches die Romanvorlage auf bestechende Weise neu interpretiert. Bei der Bühnenfassung tritt die mise en abyme (der Charakter von Spiel im Spiel) vermutlich erst recht unmittelbar vor Augen, da man es dabei nicht mit einem Wechsel des Mediums (Theater – Film) zu tun bekommt. Der Bühnencharakter bleibt allerdings auch in der Verfilmung gewahrt, denn es handelt sich hier um ein filmisches Kammerspiel, und die obendrein zeitdeckende Inszenierung ohne Zeitsprünge oder Szenenwechsel trägt dazu bei, dass sich im Spiel zwischen den beiden Figuren eine besondere Intensität entfalten kann.

Das doppelt fiktive Spiel im Spiel unterstreicht dabei gekonnt diejenige Form von Spiel in der realen sozialen Interaktion, um die es thematisch in der Hauptsache geht: den Flirt und seinen manipulativen Charakter als Mittel der Verführung sowie das (mehr oder weniger) spielerische Kräftemessen zwischen den Geschlechtern. Es ist eine helle Freude, Emmanuelle Seigner und Mathieu Amalric dabei zuzusehen, wie sie diesen Machtkampf als Spiel auf mehreren Ebenen austragen und quasi als Drama von der sexuellen Hörigkeit aufführen, bei dem sich eine erotische Spannung aufbaut, die noch auf der Leinwand mit Händen zu greifen ist. Da die Vanda von Polanskis Ehefrau gespielt wird und Amalric nicht nur optisch an eine jüngere Ausgabe des Regisseurs selbst erinnert (so wiederum Prinzler), kommt übrigens augenzwinkernd noch der autobiografische Bezug als weitere Ebene hinzu.

Die Figur der Vanda hat etwas Undurchschaubares, das neben ihren herausragenden schauspielerischen Fähigkeiten (die letztlich Seigner als ihre Interpretin auszeichnen) dazu beiträgt, dass sie den Regisseur Thomas vom Fleck weg in ihren Bann zieht. Zwar stellt sie Thomas wiederholt wegen des ihrer Ansicht nach sexistischen Charakters seines Stückes zur Rede, das sie besser zu kennen scheint als der Autor selbst, und zwischendurch gibt sie sich als Detektivin aus, die von Thomas’ Verlobter als Treuetesterin angeheuert worden sei, aber dabei scheint es sich um eine haltlose Behauptung zu handeln. Kaum scheint Thomas die Schauspielerin auch nur an einem Zipfel zu fassen zu bekommen, entzieht sie sich ihm auch schon wieder, indem sie nahtlos in die Rolle der Bühnen-Wanda wechselt. Ihre eigentlichen Motive bleiben im Dunklen, was dem Film etwas Mysteriöses verleiht. Trotz – oder gerade wegen – ihrer Ungreifbarkeit wickelt sie den Regisseur um den Finger und zwingt ihn regelrecht in die Rolle des Severin seines Stückes, die er nur zu wollüstig annimmt.

In diesem Fall hat also letztlich mal wieder die Frau die Hosen an und dies nicht zum Schaden des Mannes, weil der Schaden jedenfalls jederzeit von Lust aufgewogen wird, wenn nicht sogar übertroffen. „Aber der Herr, der allmächtige Gott, hat ihn gestraft, und hat ihn in eines Weibes Hände gegeben“ – so lautet prominent das Doppel-Motto von Stück und Film. Der Begriff der femme fatale, die Vanda zweifellos verkörpert, wird so als Tautologie abgestempelt, aber ein solches fatum ist einem Thomas/Severin masochistisch willkommen.So schlimm kann die Strafe nicht sein, wenn sie als so süße Pein daherkommt. Wer sich als heterosexueller männlicher Zuschauer angesichts der Versuchung durch Vanda nicht selbst am Ende gefangen in den Fesseln der Begierde sähe wie Thomas, werfe den ersten Stein.

Gespräch über Bäume

„Wir sind die anderen.“

Mit diesem Satz klingt der Abend aus, und zurück bleibt mindestens die Frage, ob das denn als abschließende Feststellung reichen kann. Aber was könnte andererseits auch überhaupt mehr erwartet werden von einer Theatervorstellung? Gesellschaftliche Intervention im Sinne von Politik mit anderen Mitteln ja wohl eher nicht … Meinungsbildung vielleicht, nein, bestimmt sogar, denn das funktioniert natürlich in diesem Resonanzraum, den das Theater als ein Ort öffentlicher Reflexion darstellt – aber in diesem Fall nicht ohne den Beigeschmack, dass das, was sich da gerade abgespielt hat, mit einiger Berechtigung auch als bloße „Propaganda der Gegenseite“ abgetan werden könnte.

Wovon ist hier die Rede? Von Falk Richters jüngstem Stück „FEAR“ an der Schaubühne. Nach dem sensationellen Eindruck, den „NEVER FOREVER“ auf mich gemacht hat, wollte ich mir die neuste Produktion des Berliner Regisseurs natürlich nicht entgehen lassen – zumal sie durch den Wahlerfolg der sogenannten Alternative für Deutschland jüngst noch einmal an Aktualität bzw. Brisanz gewonnen hat. Das zeitgenössische Phänomen des besorgten Wutbürgers steht hier nämlich im Mittelpunkt, seine Furcht vor Überfremdung und vermeintlicher „Islamisierung“ ist die titelgebende.

zombies03Besonders der erste Teil des Abends wird phrasiert von O-Tönen von Pegidisten und sonstigen Demonstranten, die ihre Sorge artikulieren – teilweise als so haarsträubenden Irrsinn, dass man den Inhalt gar nicht noch einmal wiedergeben möchte (die rot-schwarz-grüne Einheitsregierung mit all ihren Lesben und Schwulen in den Hinterzimmern möchte natürlich den Geschlechterunterschied abschaffen usw.) – und die dieser Tage vor offener Aggression und Gewalt immer weniger zurückschrecken. Die ausgesprochenen Furchtbarkeiten dieser Leute sind dabei in einen treibenden Beat geloopt, der äußerst sinnfällig vor Augen oder vielmehr vor Ohren führt, was für ein wirkmächtiges propagandistisches Lauffeuer entstehen kann, wenn sich Menschen solche Parolen einhämmern wie mit Trommelschlägen. Hier bekommt man auch als Zuschauer ein bisschen Angst, nämlich vor der Popularität von Ignoranz und vor dem Zulauf, den ausgerechnet die politischen Führer mit solchen Ideen bekommen, von denen man eigentlich angenommen hatte, sie seien seit den Nürnberger Prozessen zunehmend ausgerottet und endgültig beerdigt worden. Wie Untote scheinen diese aber gerade zurückzukommen, und die Inszenierung zeichnet sie deshalb als eine Horde Zombies, mit denen das Abendland wutverzerrt seine hässlichste (und hirnlose!) Fratze zeigt.

Solange der neofaschistische „Klassenfeind“ auf diese Weise porträtiert wird, erinnert die Inszenierung an das Vorgängerstück und entfaltet eine ähnlich psychosomatische Wirkung. Der packende Musikeinsatz, zu dem sich auch hier wieder einige Tänzer manisch winden wie Geworfene, lässt so etwas wie eine Handschrift des Regisseurs Richter erkennen, und dieser Stil rückt erneut buchstäblich zu Leibe. In der zweiten Hälfte des Abends kippt die Vorstellung jedoch sozusagen ins Informelle, und die Darsteller treten aus ihren ohnehin nur bedarfsweise übergestülpten Rollen heraus und liefern dem Zuschauer so etwas wie ein Behind the scenes-Potpourri als ausgedehntes „Beiseite“. Zwar ist das darin u.a. vorgetragene Bedürfnis, nach all der Auseinandersetzung und sogar Identifikation mit dem stumpfsinnigen Weltbild der Polit-Zombies dasselbe zwischendurch ostentativ abzuschütteln, nur zu verständlich. Als handwerkliche Technik der Inszenierung ergibt dieses Verfahren aber kaum mehr als ein postdramatisches Gesellenstück, welches sich durch stetige Wiederholung in der einschlägigen Tradition bis heute doch schon deutlich abgenutzt hat, und das kann auch die Schirmherrschaft von Heiner Müller, der als Plakat sowie Bezugspunkt der Rede auf die Schaubühne kommt, letztlich wenig aufwerten. An dieser Stelle verkommt das Stück zu einer Art „Nummernrevue“, wie es Georg Kasch in seiner nachtkritik recht treffend auf den Punkt bringt, und diese Revue gerät dann sogar etwas langatmig und zu beliebig.

Am unsäglichsten ist das Herumreiten auf der Genealogie der AfD-Politikerin von Storch, deren Großvater Finanzminister bei den wirklich echten Nazis war. Zwar mag es wohl möglich sein, dass bestimmte Haltungen sich in Form einer gelebten Familienethik durch die Generationen fortpflanzen, aber das kann keineswegs zwingend vorausgesetzt werden. „Wer A sagt, muss nicht B sagen“, wie Brecht es so schön gefasst hat, „er kann auch erkennen, dass B falsch ist“, und noch viel weniger folgt B, nur weil Opa seinerzeit mal A gesagt hat. Was diesen genealogischen Fokus aber besonders heikel macht, ist, dass er im Gestus einer Denunziation daherkommt, die die von Storch gleichsam in Sippenhaft nimmt und unterschwellig eine genetische Herleitung von dem Hass vornimmt, der ihr unterstellt wird. Damit bedient sich die Inszenierung an dieser Stelle doch genau solcher Methoden, für die totalitäre Systeme berüchtigt sind, und im Hinblick auf das genetische Argumentationsmuster insbesondere jenes, das hier doch eigentlich zu Recht inkriminiert werden soll. Schwer vorstellbar eigentlich, dass so ein Fighting fire with fire unwillkürlich unterlaufen sein könnte, aber gleichzeitig erscheint es mir doch auch zu wenig markiert, um als ins Bewusstsein gehoben gelten zu können, und dadurch als mindestens fragwürdig. Vielleicht ist hier ja aber doch genau darauf abgezielt, das vor Augen zu führen: Auch wir (wie auch immer sich dieses „Wir“ konstituieren mag), die wir uns für „die Guten“ halten, sind nicht immun gegen Indoktrination und Hetze.

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„Wir sind die anderen“ ist jedenfalls meines Erachtens dann ein unglücklicher Schlussakkord, wenn man ihn ohne die eben angedeutete Verunsicherung der eigenen moralischen Überlegenheit stehen lässt, weil man damit in einer bloßen Abgrenzungsgeste erstarrt. Die im Theatersaal anwesende Kulturelite vergewissert sich selbstgefällig, dass sie auf der richtigen Seite steht, die Fronten verhärten sich, und der Konflikt wird verschärft: Die spinnen, die anderen, und das sind ja auch bloß Alte, Dumme, Minderprivilegierte. So etwas wie eine dialogische Auseinandersetzung lässt das Stück so gesehen am Ende weitgehend vermissen, und sollten sich einmal Anhänger oder Sympathisanten von AfD und Pegida oder sonst wie konservativ-besorgte Bürger in die Vorstellung verirren, werden sie solcherart vor den Kopf gestoßen wohl kaum zum Überdenken der eigenen Positionen angehalten werden.

Ich bin eigentlich eh kein großer Freund von politischem Engagement in der Kunst, aber wenn sich diese schon einmal darauf einlässt, sollte sie das meines Erachtens behutsamer tun und nicht so sehr mit dem Holzhammer hantieren. Anderenfalls begibt sie sich auf doch recht dünnes Eis und nähert sich – um noch ein weiteres Mal B.B. aus den schwarzen Wäldern zu bemühen – dem Reden „mit dem Maschinengewehr“ des politischen Gegners an. Und in den allermeisten Fällen hat doch wohl nicht gerade derjenige Recht, der am lautesten schreit, bzw. hallt es ihm dann immer nur genauso wider, und am Ende sind beide Seiten heiser und in der Sache keinen Schritt weiter gekommen. Das Unglück, dass man dann eben in den hintersten Winkeln (von z.B. Bitterfeld) nicht sofort gehört wird, ist vielleicht gar keins, und wenn doch, lässt es sich aushalten.

Instantkartoffelbrei

Grün zu gelb

So langsam beginnt hier thematisch ein roter Faden durchzuschimmern, nämlich in bezug auf einen Schwerpunkt meines kulturellen Interesses, von dem ich gar nicht so genau wusste, dass es ihn gibt, bzw. über den ich mir vermutlich weniger klar geworden wäre, wenn ich nicht begonnen hätte, über meine Kulturdegustationen (wie damals in Beitrag 1 angekündigt) zu schreiben. Am vergangenen Wochenende habe ich mich jedenfalls schon wieder an zwei solchen erfreut, die beide gleichermaßen in dieselbe Rubrik fallen, in die sich möglicherweise fast alle meine bisherigen Beiträge mehr oder weniger einordnen lassen – ganz dezidiert aber mindestens die über den Film „Boyhood“ und das schriftstellerische Anliegen von Karl Ove Knausgård -, und die mit „die Ästhetik des Gewöhnlichen“ überschrieben werden könnte. Ohne dass ich es bewusst so geplant hätte, stimmt übrigens gewissermaßen auch schon das Titelbild meines Blogs dazu.

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Am Wochenende waren es nun ein Theaterstück sowie eine Fotoausstellung, die ebenfalls wieder demselben Komplex zuzuordnen sind. Und zwar habe ich mir zum einen am Hebbel am Ufer das Stück „Come Together“ von Martin Clausen und Kollegen angesehen. Dem gemeinen Stadtmenschen wird die besondere Komik vertraut sein, die mitunter entstehen kann, wenn en passant Gesprächsfetzen aufgeschnappt werden, wo Volkes Stimme sich artikuliert, wie ihr der Schnabel gewachsen ist – und genau diese wird leitmotivisch zum Stilmittel in Clausens Theaterabend. Den Ausgangspunkt bildet ein Kneipenbesuch einer sechsköpfigen Gruppe, die sich zum Umtrunk mal in ein unbekanntes Lokal begibt, weil das doch mal ‚was anderes ist und also „vielleicht eine gute Idee – vielleicht aber auch eine Scheißidee …“. Am Ende wiederholt sich dieselbe Szene im Wortlaut noch einmal, nur die Outfits sind gewandelt vom an Mathelehrer gemahnenden Casual Look mit Schlabberjeans und grün gemusterten Strickpullovern, angesichts derer jeder Neukölln-Hipster mindestens ebenso grün vor Neid werden muss, hin zu gelben Trikots von krockethafter Sportivität. Dazwischen ein paar durch Geigenklänge folkloristisch angehauchte Lieder, in denen z.B. „Instantkartoffelbrei und Brotaufstrich aus Pflanzenfett“ besungen werden, absurde und nur entfernt an so etwas wie Tanz erinnernde Choreografie-Einlagen und als persönlicher Höhepunkt für mich eine Art Persiflage auf einen Romcom-Gemeinplatz, wenn nämlich Martin Clausen und Peter Trabner Hand in Hand wie ein Paar in aufkeimender Liebe im Zeitraffer verschiedene Abenteuer erleben und in rein gestischer und sprachlicher Evokation die unterschiedlichsten Szenerien heraufbeschwören („schau: ein Gebirge!“), die in die Katastrophe münden („ein Sturm zieht auf!“ – „das Schiff geht unter!“). „Ja, und die Jutta ist ja jetzt lesbisch geworden.“ Vox potpourri könnte man das Konzept dieses Abends nennen, und wenn sich darin überhaupt etwas in übertragener Bedeutung artikuliert, dann vor allem die menschliche Komödie, in der wir alle ebenso unsere Kreise ziehen wie die Bühnenfiguren in der Zirkelstruktur ihres Stückes.

arch1Als zweites habe ich mir dann noch eine Retrospektive des Fotografen Stephen Shore im C/O Berlin angesehen. Darüber will ich gar nicht allzu viele Worte verlieren, denn sobald ich über Bilder spreche, würde ich notwendigerweise eine gewisse Frustration heraufbeschwören, weil ich diese aus rechtlichen Gründen natürlich leider nicht zeigen kann. Dem versuche ich entgegenzuwirken, indem ich ein paar eigene Fotos einbette, die vielleicht als konzeptuell verwandt angesehen werden können, und verweise ansonsten auf die Seite der ausstellenden Galerie. Nur so viel sei noch gesagt: Auch in Shore begegnet wieder ein künstlerisches Schaffen, das im ganz alltäglichen Umfeld ansetzt und z.B. Ansichten von unbedeutenden Gebäuden in amerikanischen Kleinstädten oder Interieurs von (Hotel-)Zimmern präsentiert, die ihre ästhetische Kraft vorrangig aus der sorgfältigen Bildkomposition beziehen.

Ob es nur meine persönliche selektive Wahrnehmung durch mehr oder weniger bewusste Auswahl ist oder ob vielleicht ganz allgemein das Alltägliche, Banale, Triviale und eine Ästhetik des Gewöhnlichen aktuell Hochkonjunktur unter Kulturschaffenden haben, wäre freilich noch genauer zu klären. Ich biete mich an dieser Stelle an, das weiter zu beobachten.

Niemals nie

Eigentlich liegt der Besuch von mir fast schon zu lange zurück, um noch darüber zu schreiben, aber weil ich den Abend als so außergewöhnlich gut empfunden habe, kann und will ich es doch nicht unterlassen, diesen Eindruck nachträglich festzuhalten. Die Rede ist von dem Stück NEVER FOREVER an der Berliner Schaubühne.

Thematisch ähnlich gelagert wie die bereits besprochenen Stücke von Sibylle Berg geht es auch hier wieder um das moderne Individuum im Internetzeitalter und unter den Bedingungen von Social Media, nur diesmal ohne die schwerpunktmäßige Fokussierung auf Weiblichkeitsentwürfe. Als einer unter vielen taucht jedoch auch dieser Aspekt im Panoptikum der Inszenierung von Falk Richter und TOTAL BRUTAL auf, nämlich wenn gleich ziemlich am Anfang eine „mise en abyme“-Schauspielerin eine Frau, die sich als ihre Tochter an sie wendet, mit den Worten abweist, „die Mutterrolle habe ich nie angenommen“, und damit das womöglich natürlichste und innigste Verhältnis, was (konventionell gesehen) zwischen zwei Menschen herrschen kann, zu einem nur optionalen Engagement degradiert. Damit ist schon zu einem frühen Zeitpunkt im Stück sehr effektvoll herausgestellt, worum es dann auch in der Folge weiter gehen wird: Menschen, die sich außerstande sehen, sich langfristig auf etwas einzulassen, nicht nur aber insbesondere auf Beziehungen zu anderen Menschen. Den komischen Höhepunkt in diesem Problemkosmos bildet ein Telefonat zwischen den beiden Partnern in einer modern unverbindlichen On/off-Beziehung, wo der Mann nach Tagen oder gar Wochen ohne jeden Kontakt mal wieder nur anruft, um sich darüber auszulassen, wie extrem „busy“ er in letzter Zeit immer gewesen sei und wie außerordentlich müde ihn dieses sein Business praktisch jeden Tag mache, sodass jedes persönliche Treffen in nächster Zeit weiter ausgeschlossen bleibe, woraufhin ihn die Frau damit konfrontiert, dass ihr solche Telefonate nicht reichten, sondern sie ihn schließlich auch mal sehen wolle. Paarkonstellationen in dieser engeren Hinsicht trifft aber nur ein Schlaglicht unter vielen, und das Phänomen „Unverbindlichkeit“ wird auch in mehreren anderen Bereichen vorgeführt. So beklagt sich etwa auch ein Hochschuldozent über die geschrumpfte Aufmerksamkeitsspanne seiner Studenten und weist konsterniert darauf hin, dass es u.a. im Denken (er ist jedenfalls von der philosophischen Fakultät) „nicht nur Highlights“ geben könne, sondern „auch Hinleitungen“ absolviert und in Kauf genommen werden müssten, wozu die Nachwuchswissenschaftler seiner Ansicht nach anscheinend meistens gar nicht mehr bereit seien. Oder eine Frau konstatiert bei sich die Unfähigkeit zur „face to face“-Kommunikation, weil dabei im Gegensatz zum digitalen Posten nicht die Möglichkeit besteht, die eigenen Aussagen auch nachträglich noch zu editieren oder wieder zu löschen, sie krankt an der Endgültigkeit der gesprochenen Rede, die nach dem Aussprechen vermeintlich ein für alle Mal feststeht. Immer wieder kreisen die Szenen, die in weitgehend unverknüpfter Reihe aufeinanderfolgen, um dieselbe Symptomatik: das Unvermögen zu anhaltender Hinwendung, die stattdessen nur noch temporär und vorbehaltlich möglich ist, weil im Menschenstrom der Großstadt genauso wie im Datenstrom des Internets der nächstbeste Reiz der nächste noch bessere Eindruck sein könnte, so etwas wie Konzentration über einen längeren Zeitraum oder gar Commitment scheinen dagegen überhaupt nicht mehr möglich: NEVER FOREVER. Mögen sie sich selbst auch dafür halten – im Wortsinne haben wir es hier jedenfalls nicht mehr mit In-dividuen zu tun, denn mindestens ihre Aufmerksamkeit ist zu keiner Zeit ungeteilt und kommt nie zur Ruhe.

Als rastlos Getriebene, sich Windende präsentiert auch die energetische Choreografie von Nir de Volff diese Menschen in dem schlichten aber ebenfalls dynamisch modulierten Bühnenbild, unterstützt von ebenso treibenden Musikeinspielungen, die in ihrer aufputschenden Wirkung an den Soundtrack von „Lola rennt“ erinnern. Insgesamt ergibt sich dadurch eine Wirkung, die mich am Ende im besten Sinne erschüttert und erschöpft zurücklässt, wohl auch weil die im Stück angelegte Gegenwartsdiagnose eine Form von Wahrhaftigkeit entwickelt, die in gewaltiger Intensität ästhetisch auf den Punkt gebracht wird. Hätte ich nicht vor rund zehn Jahren bei einer sensationellen Inszenierung von Rimbauds „Une saison en enfer“ als Einmannstück am Theater Dortmund aus Scham vor dem kleinen Publikum versäumt, stehend zu applaudieren, wonach ich mir schwören musste, von nun an nie an standing ovations im Theater teilnehmen zu können, weil ich damit dieser großartigen Leistung im Nachhinein Unrecht tun würde – bei diesem Stück von Falk Richter wäre es eigentlich wieder angebracht gewesen. Mehr kann Kunst wohl nicht erreichen, als den Rezipienten regelrecht körperlich anzugehen und mitzunehmen, und genau das gelingt NEVER FOREVER. Für mich der beste Theaterabend seit langem.

 

Die vierte Wand vergittert

Ist ein Zoobesuch moralisch verwerflich? Wer diese Frage für sich uneingeschränkt mit „ja“ beantwortet, muss ungleich größere Bedenken entwickeln angesichts dessen, was die Initiative „aufBruch“ ermöglicht: einen Theaterbesuch in einer Justizvollzugsanstalt, mit Häftlingen als Darstellern. Trotzdem übt das natürlich eine ziemlich unmittelbare Faszination aus, die solche Skrupel gar nicht erst aufkommen lässt: Einmal hinter schwedische Gardinen kommen und sich selbst zumindest den Anschein von Verruchtheit zu geben, davon erzählen zu können … Außerdem nehmen die Häftlinge im Gegensatz zu Zootieren natürlich freiwillig an der Vorstellung teil, niemand wird gegen seinen Willen vorgeführt, und so lassen sich alle etwaigen Skrupel leicht verscheuchen, und es bleibt der angenehme Schauder, verurteilten Straftätern gegenüberzutreten – natürlich ohne sich in Gefahr zu begeben, denn das Ganze findet ja in einem institutionell abgesicherten und überwachten Rahmen statt.

Der zu spät kommenden Theaterbesuchern geläufige „letzte Einlass“ bekommt hier konsequenterweise eine striktere Bedeutung: Um überhaupt eingelassen zu werden, muss eine Sicherheitsschleuse passiert werden, der Personalausweis wird an der Pforte einbehalten und gegen einen Besucherausweis getauscht – denn so kann sichergestellt werden, dass am Ende wirklich nur die Besucher die Haftanstalt wieder verlassen und nicht etwa einer der Häftlinge inmitten der Theatergänger sich den Weg in die Freiheit erschleicht. Außerdem muss man sich einige Tage vor dem Besuch persönlich mit seiner Meldeadresse anmelden, ganz offensichtlich, damit die Personalien überprüft und jegliche Verwandtschaft oder Verschwägerung mit den Schauspielern ausgeschlossen werden können – in welchem Fall die Leibesvisitation vor dem Einlass vermutlich noch eine Spur gründlicher ausfallen würde. Spontaner Besuch ist somit nicht möglich, und wer zu spät kommt, bleibt vor verschlossener Tür und Mauern mit Stacheldraht. All der Nervenkitzel, auf den sich der gesetzestreue Normalbürger vor dem Besuch in einer JVA gefasst macht, stellt sich also erwartungsgemäß ein, und es entsteht gewissermaßen schon beim bloßen Betreten des Veranstaltungsortes so etwas wie Katharsis.

Dadurch ergibt sich die paradoxe – bzw. für die Theatermacher herausfordernde – Situation, dass der Besucher gewissermaßen schon vor Vorstellungsbeginn gesättigt ist, weil ein guter Teil seiner subtilen Erwartung dann bereits befriedigt wurde. Dies wird durch eine angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten bemerkenswert professionelle und multimediale Bühnentechnik gekontert – im Falle der aktuellen Produktion in der JVA Plötzensee „Zeit vergeht. Warten“ sogar inklusive Live-Video-Überblendung mittels Greenscreen -, die dem Zuschauer eine vielschichtige ästhetische Erfahrung bereitet. Nichtsdestotrotz setzt sich der Eindruck, dass es eigentlich gar nicht so wichtig ist, was hier in Form einer soundso gearteten Inszenierung auf der Bühne geboten wird – im Mittelpunkt steht irgendwie doch der Kontakt mit den Straftätern. Wohnt jeglichem Theaterbesuch per se schon immer ein Moment von Voyeurismus inne (die Wonne, Menschen in Gestalt von Schauspielern völlig ungeniert begaffen zu können), so ist dieser im Fall des Knasttheaters noch einmal signifikant gesteigert: So sehen Verbrecher aus!

Gartencenter 08Diese spezifische Lust wird dann aber auch wiederum von der Inszenierung von vornherein eingeholt. Der Bühnentext wurde zusammen mit den auftretenden Häftlingen erarbeitet, und man darf annehmen, dass die Geschichte, die diese erzählen, ihre eigene ist. Es ist Geschichte teilweise auch im Sinne von Ätiologie, und zusammen mit der auf der Leinwand gezeigten sozusagen genretypischen Kamerafahrt durch die Anstaltsgänge wird dem Zuschauer so ein recht intimer Einblick gegeben in den Alltag dieser Gefangenen mit ihren Erinnerungen, ihren Träume und ihrer Reue. Die Häftlinge erscheinen somit in ihrer elementaren Menschlichkeit (ein Faktor, der durch das laienhafte Spiel noch akzentuiert wird und bei professionellen Schauspielern wohl kaum je so zur Geltung kommen könnte) und beschämen die voyeuristischen Gelüste des Zuschauers in flagranti. Natürlich bleibt am Ende dennoch die Frage, was der und der wohl getan haben mag – die sich insbesondere bei den Herren im Rentenalter stellt, denn die jüngeren Semester berichten zum Teil vorhersehbar von kleinkriminellen Drogendelikten. Aber was muss ein Siebzigjähriger getan haben, dass er hier einsitzt (und zwar immer noch, denn für mich ist es bereits der zweite Besuch in der JVA, und an den Herrn erinnere ich mich noch aus dem letzten Jahr)? Doch diese Frage bleibt unbeantwortet, und das ist schlichtweg das gute Recht jedes Insassen, denn so viel Diskretion ist man dem Menschen gegenüber einfach schuldig. Indiskrete Zeitgenossen bekommen übrigens gleichwohl die Gelegenheit, ihre Neugier zu befriedigen und Fragen wie diese zumindest zu stellen, denn im Anschluss an die Aufführung gibt es ein Meet and Greet (and Eat) mit den Beteiligten.

Unterm Strich bleibt ein sehr aufschlussreicher Abend. Zwar erwartet den Besucher keine herausragende Schauspielkunst, aber das ist von vornherein klar, da man ja weiß, dass man es auf der Bühne mit Laien zu tun hat. Dafür ermöglicht das spezielle Setting, sich mit sich selbst und seinen Vorurteilen auseinanderzusetzen und zudem den Menschen hinter den Gefängnisinsassen zu begegnen, und darauf arbeitet die Regie mit der Anlage des Stückes sowie seiner Rahmung gekonnt hin (es wird am Anfang noch eine spezielle Art von Schwellensituation geschaffen, die hier aus dramaturgischen Gründen für zukünftige Besucher nicht vorweggenommen werden soll). Der Applaus, der am Ende frenetisch gespendet (und geschuldet!) wird, entspringt also nur zum Teil der gebührenden Anerkennung für die Häftlinge und ihre Entblößung – denn gleichzeitig geschieht dabei Abbuße für die Schaulust, derer man sich selbst überführt gesehen hat.